Der Wochenkommentar

Ausblick 2023: Eine Art Normalität

Dezember 2022 Das Jahr 2023 könnte durch so etwas Ähnliches wie Normalität geprägt sein. An möglichen Unsicherheitsquellen gibt es allerdings keinen Mangel.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Im Jahr 2023 dürften weltweit viele Volkswirtschaften eine deutliche Wachstumsverlangsamung bzw. eine milde Rezession erleben, gefolgt von einer wahrscheinlich nur zähen Erholung in 2024. Der Abschwung ist das Ergebnis der synchronen globalen geldpolitischen Straffung, die bereits jetzt in zinssensitiven Sektoren wie dem Immobilienmarkt negative Spuren hinterlässt und sich mit Verzögerung auch in anderen Sektoren bemerkbar machen wird. Darüber hinaus sorgt die weltweit hohe Inflation für erhebliche Kaufkraftverluste, eine nur gedämpfte Konsumnachfrage sowie Zurückhaltung bei Investitionen. Letztere leiden auch unter der geopolitischen Unsicherheit, die mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine einhergeht. Dass wir trotz dieser Kombination an belastenden Faktoren nicht mit einem tiefen Wirtschaftseinbruch rechnen, hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass die Auftragsbestände in der Industrie nahe ihren Rekordständen sind und angesichts der sich entspannenden Lieferketten der Output dieses Sektors zunächst noch relativ stabil bleiben sollte. Hilfreich ist außerdem die Besonderheit in diesem Konjunkturzyklus, dass die Arbeitslosenrate im Vergleich zu früheren Abschwüngen nur wenig steigen sollte – die meisten Unternehmen berichten weiterhin von Arbeitskräfteknappheit –, so dass die klassische Abwärtsspirale aus niedrigerer Beschäftigung, weniger Konsumnachfrage, geringeren Unternehmensgewinnen und Investitionen usw. nicht im gewohnten Ausmaß greift. Im Jahr 2024 dürfte das Wirtschaftswachstum nur 2,8 % erreichen, da strukturelle Gründe ein nur niedrigeres Produktivitätswachstum erlauben sollten.

Die Inflation wird höher bleiben als allgemein erwartet

Die Inflation wird sich vermutlich spätestens nach Q1 2023 zurückbilden, aber weder in der Eurozone noch in den USA wird das Inflationsziel von 2 % per Ende 2023 voraussichtlich erreicht werden, da trotz der Entspannung der Lieferketten in einigen Sektoren Angebotsknappheiten fortbestehen bleiben, sowohl auf dem Arbeitsmarkt – das bedeutet weiter steigende Löhne – als auch auf vielen Gütermärkten. Letzteres heißt, dass Unternehmen immer noch über eine gewisse Preissetzungsmacht verfügen. Außerdem führen längerfristige Verträge – insbesondere in der Energieversorgung – zu verzögerten Preisanpassungen. Für die EZB und die Fed hat das zur Folge, dass sie voraussichtlich bis in das erste Quartal 2023 hinein noch die Zinsen anheben und dann zunächst pausieren werden. Zudem dürfte sich die EZB der Fed anschließen und beginnen, ihr Anleiheportfolio zu reduzieren.

Keine globale Rezession

Die Weltwirtschaft wird gemäß unserer Prognose im kommenden Jahr mit einer Rate von 2,3 % wachsen, nach schätzungsweise 3,0 % in diesem Jahr. Unterdurchschnittliches Wachstum erwarten wird für die Eurozone (+0,4 %) und für die USA (+0,9 %). China sollte zwar mit einer Rate von 3,5 % stärker expandieren, aber im historischen Vergleich wäre auch dies ein enttäuschendes Ergebnis. Die anderen asiatischen Länder sollten im Durchschnitt stärker wachsen und zusammen mit den energieexportierenden Ländern (u.a. Naher Osten) und Lateinamerika dafür sorgen, dass die Weltwirtschaft nicht in eine Rezession abgleitet.

Die Wirtschaftsleistung der Eurozone wird zwei Quartale schrumpfen

Für die Eurozone rechnen wir 2023 mit einem Wirtschaftswachstum von 0,4 %, dem eine eher enttäuschende Expansionsrate von 2,0 % im Jahr 2024 folgen dürfte. Die Inflation wird im Jahresdurchschnitt kaum sinken (2022: 8,3 %) und erst 2024 auf 5,2 % fallen. Die EZB dürfte den Hauptrefinanzierungssatz bis März 2023 auf 3,25 % anheben (Einlagezinssatz: 2,75 %). Es ist gut möglich, dass der Leitzins bis einschließlich 2024 nicht wieder gesenkt wird.

Resiliente USA vor schwacher Wachstumsphase

USA: In den USA dürfte das BIP im Jahr 2023 noch um 0,9 % wachsen, nach 2,0 % in diesem Jahr (2024: 0,7 %). Tatsächlich erweist sich die US-Wirtschaft weiterhin als sehr resilient. Die Schwäche kommt vor allem vom Bausektor, der unter den höheren Zinsen leidet. Die Konsumenten verfügen weiterhin noch über hohe Ersparnisse, die im Zuge der öffentlichen Corona-Hilfspakete angesammelt wurden, und diese stabilisieren den privaten Konsum. Die Fed wird in diesem Umfeld die Zinsen bis März 2023 vermutlich auf 4,75 bis 5,00 % anheben, während die PCE-Kernrate der Inflation nach unserer Erwartung im Durchschnitt des Jahres auf 4,3 % fallen wird (2022: 5,0 %).

Auch ohne Zero-Covid bleibt Wachstum in China gedämpft

Die chinesische Wirtschaft dürfte in 2023 nur um 3,5 % Jahr wachsen, nach 2,8 % in 2022. Die im historischen Vergleich schwache Performance hat vor allem mit der verfehlten Null-Covid-Politik zu tun, in deren Gefolge es zuletzt auch zu bislang in China ungesehenen Protesten gekommen ist. 2023 dürfte zudem von den zunehmenden wirtschaftlichen Spannungen mit den USA geprägt sein, die große Teile des chinesischen Technologiesektors mit scharfen Sanktionen belegt haben. Abgesehen davon wird das Wachstum jedoch auch durch strukturelle Faktoren gedämpft, wozu insbesondere eine ungünstige demografische Entwicklung zählt sowie eine mangelnde Ausstattung mit gut ausgebildeten Menschen.

Entwicklung der Aktienmärkte durch steigende Renditen gebremst

Die Kursentwicklung der Aktienmärkte sollte – ähnlich wie im laufenden Jahr – 2023 eine Funktion der Notenbankpolitik sein, die wiederum von der Inflationsentwicklung abhängt. Da die Fed und die EZB die Zinsen nicht nur bis März anheben, sondern die Zügel dann auch länger gestrafft halten dürften, als dies möglicherweise gegenwärtig erwartet wird, ist unseres Erachtens das Aufwärtspotenzial für Aktien begrenzt, so dass Ende 2023 die Kurse vermutlich nur wenig höher liegen dürften als das Durchschnittsniveau des laufenden Monats.

Der Euro könnte seine Aufwertung fortsetzen

Das beschriebene Umfeld einer milden Rezession in 2023 ohne größere Turbulenzen – also etwas Ähnliches wie Normalität – sollte dem Euro-US-Dollar Wechselkurs gut bekommen. Denn nachdem der US-Dollar im laufenden Jahr von den volatilen Finanzmärkten und der Furcht vor einer tiefen Rezession profitiert hat, dürfte die abnehmende Angst vor diesen Entwicklungen dem Euro zur Aufwertung verhelfen. Die Bäume sollten jedoch kaum in den Himmel wachsen. Denn die langfristig schwächere Leistungsbilanz, eine Folge der dauerhaft höheren Energiekosten, dürfte den Euro-Gleichgewichtskurs – falls es so etwas gibt – belasten. Wir erwarten eine Aufwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar auf 1,08 per Ende 2023.

Ölmarkt orientiert sich neu

Der Erdölpreis könnte angesichts der neuen Sanktionen der EU und der restriktiven OPEC Plus-Politik bis in das erste Quartal 2023 hinein steigen und dann allmählich fallen. Einen Absturz der Ölpreise erwarten wir jedoch trotz der schwachen Wirtschaftsentwicklung nicht, da – neben anderen Gründen – fossile Brennstoffe bis auf weiteres relativ knapp bleiben werden, unter anderem wegen mangelnder Investitionen in neue Projekte.

Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt

Die Risiken für unseren Ausblick sind zahlreich. In Europa wird die Stabilität der Energieversorgung von den Temperaturen in den Wintermonaten abhängen. In diesem Zusammenhang ist die unerwartet zähe Wiederinbetriebnahme von Atomkraftwerken in Frankreich, die im Sommer wegen Wartungsarbeiten etwa zur Hälfte ausgeschaltet waren, ebenfalls ein Risikofaktor. Weiter könnte es Rückschläge bei den Lieferketten geben, etwa wenn Covid-19 in China (oder in anderen Regionen der Welt) zu Lockdowns bzw. zu einem deutlich erhöhten Krankenstand führt. An der geopolitischen Front sind der Krieg in der Ukraine, die Proteste im Iran (und möglicherweise auch die in China), die Handelsspannungen zwischen den USA und China sowie die Taiwan-Politik Chinas zu beobachten. Schließlich muss angesichts der hohen Volatilität, die in den letzten Monaten an den Finanzmärkten festzustellen war, auch die Möglichkeit von nachhaltigen Finanzmarktturbulenzen in Betracht gezogen werden, die durch stärker als erwartet gestiegene Zinsen, erneute Kurseinbrüche bei wichtigen Kryptowährungen oder durch eine Kombination der oben genannten Faktoren ausgelöst werden können. Schaut man auf die Chancen, so ist es möglich, dass die Inflation wesentlich rascher fällt als erwartet und die Notenbanken darauf mit deutlichen Zinssenkungen reagieren. Ein besonders milder Winter, ein überraschend zeitnahes Ende des Krieges in der Ukraine sowie eine Entspannung im Verhältnis zwischen den USA und China wären ebenfalls Faktoren, die einen freundlicheren Ausblick auf Konjunktur und Finanzmärkte erlauben würden.

Ausblick

Unser Basisszenario ist das Bild einer milden Rezession bzw. sehr schwachen Konjunkturentwicklung in der Eurozone und den USA. Da die Beschäftigung wahrscheinlich relativ gut ausgelastet bleiben wird und es nicht zu einem Absturz der Wirtschaft kommen sollte, könnte dieses neue Umfeld geradezu als eine Art von Normalität wahrgenommen werden. Allerdings dürften einige Marktteilnehmer davon überrascht werden, dass die Inflation nicht so stark sinkt, wie das scheinbar von den Finanzmärkten antizipiert wird. Wir gehen davon aus, dass man nicht beides haben kann: Nur eine milde Rezession und gleichzeitig einen Rückgang der Inflation auf die alten Niveaus von rund 2 %. Anders ausgedrückt, es bedürfte vermutlich eines tiefen Wirtschaftseinbruchs, um die Inflationsraten deutlich zu senken. In dem von uns prognostizierten Szenario sollten die Notenbanken zurückhaltend agieren und die Zinsen lieber oben halten, als stark zu senken. Auch dies gehört vermutlich zur neuen Normalität. Unseren ausführlichen Ausblick 2023 haben wir im Rahmen der Finanzmarkttrends am 6. Dezember veröffentlicht.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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