Der Wochenkommentar

China: Erschöpft von Corona

Dezember 2022 Die Menschen in China scheinen erschöpft von der Null-Covid-Strategie der Regierung und ihr Unmut entlädt sich in Protesten. Bisher war die politische Führung in Peking scheinbar bereit, aus politischem Kalkül heraus an der Null-Covid-Strategie festzuhalten, trotz wirtschaftlicher und epidemiologischer Bedenken. Nun kommen mit den Protesten gesellschaftliche Bedenken hinzu. Damit wird die Situation zu einem Balance-Akt mit schlechten Alternativen.
Ein Kommentar von Tariq Chaudhry

Tariq Chaudhry

Von Urumqi im Nordwesten bis Shanghai im Osten haben Demonstrationen und Proteste China in den letzten Tagen erschüttert. Bisher konnte man 20 Demonstrationen in 15 chinesischen Städten verifizieren. Sie variierten in Größe, Tenor und Zusammensetzung, aber alle hatten ein gemeinsames Thema: die Forderung nach einem Ende der harten Abriegelungen und willkürlichen Kontrollen im Rahmen der „Null-Covid“-Strategie des Landes. Die Regierung steht vor einem gordischen Knoten und ist offensichtlich ratlos, wie sie ihn lösen soll.

Den jüngsten Auslöser gab es am 24. November, als bei einem Brand in einem Wohnblock in Urumqi, der Hauptstadt der Region Xinjiang, mindestens zehn Menschen gestorben und neun weitere verletzt wurden. Anwohner behaupteten, dass die Türen und Notausgänge des Gebäudes versiegelt waren, um die Ausbreitung zu kontrollieren. Beamte in Urumqi haben dies bestritten.

Während sich die Proteste in mehreren Teilen Chinas am Wochenende offenbar weitgehend friedlich aufgelöst haben, gingen die Behörden in einigen Städten mit größerer Härte vor. Bei den Protesten in Shanghai kam es im Rahmen von Handgemengen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften zu zahlreichen Festnahmen. Die entsprechenden Videos wurden inzwischen von der Zensur aus dem chinesischen Internet entfernt.

Null-Covid-Strategie ist gescheitert

Die Null-Covid-Strategie, die die Menschen in China momentan erzürnt, wurde von der Führung in Peking lange Zeit als ihr persönlicher großer Erfolg verbucht. Denn bei einer Einwohnerzahl von etwa 1,4 Milliarden Menschen wurden insgesamt etwa 1,5 Mio. Corona-Fälle gezählt und ca. 5200 Tote registriert. Im Vergleich dazu gab es in den USA, bezogen auf 334 Mio. Einwohner, etwa 100 Mio. Infektionen und über 1 Mio. Tote. Seitdem jedoch die virulentere Omikron-Variante sich im Umlauf befindet und mRNA-Impfstoffe verfügbar sind, muss man die Entscheidung Chinas weiterhin an Null-Covid festzuhalten mittlerweile kritisch betrachten. Die Null-Covid-Strategie ist teuer, sie verschlingt Schätzungen der Investmentbank Nomura zufolge etwa 1,8 % des chinesischen BIPs. Eigentlich ist diese Strategie darauf ausgelegt, sich in der Pandemiebekämpfung Zeit zu kaufen, um langfristig mithilfe von Impfungen und kontrollierter Durchseuchung harte Kontrollmaßnahmen überwinden zu können. Anders als alle ostasiatischen Nachbarn scheint China fast ziellos in einer Lockdown-Schleife zu versinken, ohne ein konkretes Ziel in Bezug auf die Pandemiebekämpfung, sodass Stimmen lauter werden, dass die chinesische Führung die strikten Corona-Maßnahmen womöglich auch für politische Zwecke ausnutzt. Kann man nun im Umkehrschluss fordern, sofort alle Null-Covid-Maßnahmen fallen zu lassen und damit Gesellschaft und Wirtschaft zu öffnen? Dagegen sprechen leider harte Fakten. Erstens, die Booster-Rate unter den Senioren ist viel zu gering, sie beträgt bei den über 60-jährigen, die etwa 300 Mio. Menschen im Land ausmachen, rund 60 %. Selbst ein autoritäres Land wie China wird sich schwertun, diese zu impfen. Laut Mary Brazelton, die Medizinprofessorin an der renommierten Cambridge Universität ist, scheuen sich Menschen vor dem Pieks, weil sie Misstrauen gegenüber der Regierung oder der Pharmaindustrie oder der Schulmedizin insgesamt verspüren. Somit kann man die Schwierigkeit der Regierung, die Menschen zur Impfung zu bekommen, auch als Ausdruck einer übergeordneten Vertrauenskrise ansehen. Zweitens, eine schlagartige Öffnung des Landes ist auch deswegen schwierig, da das Land vom Gesundheitssystem her noch ein Entwicklungsland ist. Die Kapazität an Intensivbetten im Land liegt lediglich bei 3 pro 100.000 Einwohner (Deutschland: ca. 30 pro 100.000 Einwohner) und dazu kommt noch, dass in China kein System von niedergelassenen Ärzten vorhanden ist, das den Ansturm auf die Krankenhäuser im Falle einer breitflächigen Ausbreitung des Virus auffangen könnte. Außerdem ist medizinisches Personal knapp und momentan wird es vor allem für Massentests und in provisorischen Quarantäne-Camps beschäftigt. Hier stellt sich die Frage, wo der Plan der Regierung ist, all diese Unzulänglichkeiten auszuräumen, um in das Stadium zu kommen, um eine kontrollierte Durchseuchung zu ermöglichen?

Covid-Ausbruch trotz Sicherheitsmaßnahmen

Einen kleinen Vorgeschmack darauf, wie es kommen könnte, gibt der aktuelle Infektionsausbruch. Der jüngste Ausbruch ist für chinesische Verhältnisse riesig. Allein am 28.11. wurden fast 40.000 neue Infektionen festgestellt. Im Mai waren es in der Spitze, als der Lockdown in Shanghai verhängt wurde, fast 30.000 täglich neue Corona-Fälle. Im Vergleich zum Ausbruch im April ist die Zahl der Fälle langsamer gestiegen, aber die geografische Ausbreitung ist größer. Die gemeldeten neuen Fälle in den fünf wichtigsten Provinzen (Guangdong, Chongqing, Henan, Gansu und Innere Mongolei) machen etwa 71 % der landesweit gemeldeten Fälle aus, während sich der Ausbruch im April hauptsächlich auf Shanghai und im geringeren Maße auf Jilin konzentrierte.

Vor ein paar Wochen hat das Land einige dieser Beschränkungen leicht gelockert. Die Quarantäne für enge Kontaktpersonen wurde von sieben Tagen in einer staatlichen Einrichtung auf fünf Tage und drei Tage zu Hause verkürzt, und die Erfassung von Sekundärkontakten wurde eingestellt, sodass viel mehr Menschen die Quarantäne umgehen konnten. Die Behörden haben sich auch bemüht, pauschale Lockdowns zu vermeiden, wie sie die größte Stadt, Shanghai, zu Beginn dieses Jahres erlebt hat.

Dennoch befinden sich aktuell laut Lockdown Tracker von J.P. Morgan 45 Städte in unterschiedlich intensiven Abriegelungsmaßnahmen, eine Region, die etwa 25 % der Wirtschaftsleistung (BIP) repräsentiert.

Wirtschaft erkrankt

Die Wirtschaft in China leidet unter den aktuellen Maßnahmen außerordentlich stark. Gemäß der Schätzungen der Research-Abteilung der ING-Bank wird das BIP Chinas aufgrund der Pandemie-Maßnahmen wohl 2 % geringer ausfallen. Durch die Lockdowns gibt es wiederholt Produktionsunterbrechungen, auch in der momentanen Pandemielage ist der PMI-Einkaufsmanagerindex für den verarbeitenden Sektor im November deutlich unter 50 gefallen, was für eine Schrumpfung des Sektors spricht. Der Dienstleistungssektor-PMI, der noch unmittelbarer unter Lockdown-Maßnahmen leidet, liegt bei lediglich 46,7. Wenn Menschen in ihren Häusern eingeschlossen sind, leidet darunter auch der Binnenkonsum. So sind die Einzelhandelsumsätze im Oktober im Vergleich zum September auf einem niedrigen Niveau weiter um 0,1 % gefallen. Korrespondierend dazu sind laut der Umfrage der chinesischen Zentralbank (PBoC) die Nachfrage nach Krediten im 3. Quartal auf den Indexwert von 59 abgestürzt, trotz großer staatlicher Stimulus-Pakete, und befindet sich knapp 10 % unter dem durchschnittlichen Vor-Pandemie-Niveau. Zu diesem Ergebnis trägt aber auch die schwelende Krise des Bausektors bei. Während der Pandemie hat sich in China die Jugendarbeitslosigkeit intensiviert, da u. a. Absolventen es schwieriger haben einen Einstieg in Arbeitsleben zu finden. Die Jugendarbeitslosenrate befindet sich momentan bei 17,9 % und lag vor der Krise bei etwa 10 %. Dies ist ein Faktor, der definitiv auch die Politisierung junger Menschen im Sinne der Proteste vorantreibt.

Dass der chinesische Wirtschaftsmotor nicht rund läuft, sieht man auch an der Energienachfrage des Landes, die momentan deutlich schwächelt. Der Ölpreis ist seit Beginn der Lockdowns Anfang November um ganze 10 USD gefallen und liegt aktuell (29.11.) bei 83,22 USD. Wenn man es über das Jahr betrachtet, dann dürfte Chinas Kraftstoffnachfrage 2022 voraussichtlich um 380.000 bpd sinken. Man spürt diese Entwicklung auch in der Nachfrage für Kohle. In den ersten 10 Monaten des Jahres 2022 hat der größte Kohleverbraucher der Welt insgesamt 230,1 Millionen Tonnen eingeführt, 10,5 % weniger als im Vorjahr. Am LNG-Markt ist ein ähnliches Bild zu sehen. Die sog. „LNG-Lücke“ der Volksrepublik, die Differenz zwischen dem normalen Wachstum und der tatsächlichen Nachfrage, wird für 2022 auf 39,2 Milliarden Kubikmeter Gas geschätzt. Damit wird klar, dass obwohl viele Marktteilnehmer für Energie weiterhin bullisch sind, ist die fehlende Nachfrage aus China von großer Bedeutung und sorgt weltweit für deflatorische Effekte.

Fazit und Ausblick

Die Grundvoraussetzung für alle rationalen Öffnungsplanspiele ist, dass China innerhalb der nächsten Zeit die Booster-Quote in der Bevölkerung nahe an die 100 % bringt, Quarantäne-Plätze in Intensivbetten umwandelt und das ganze medizinische Personal auf einen massiven Ansturm von Coronainfizierten vorbereitet, da die Menschen über kaum natürlich erworbene Immunität gegen das Corona-Virus verfügen. Die Null-Covid-Strategie war aus wirtschaftlicher und epidemiologischer Sicht schon länger nicht mehr haltbar. Da aber die Strategie untrennbar mit dem Namen von Xi Jinping verbunden ist und der chinesische Weg der Pandemiebekämpfung als der international überlegene dargestellt wurde, hat man sich aus offenbar ideologischen Gründen nie von der Null-Covid-Strategie getrennt. Den Menschen in China stört womöglich vieles an dem, was im politischen Peking läuft, aber vor allem scheinen sie erschöpft. Erschöpft von den Tests, Quarantäne Camps, Ausgangssperren und der ständigen Unsicherheit von unberechenbaren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung betroffen zu werden. Der unausgesprochene Deal zu Beginn der Pandemie war, dass eine Abschottung Chinas nach außen Bewegungsfreiheit nach innen garantieren wird. Dieser Deal scheint nach den landesweit wiederholt auftretenden Lockdowns seitens der Regierung unausgesprochen aufgekündigt worden zu sein. Politischen Beobachtern zufolge werden die Demonstrationen in den nächsten Wochen im Zweifel gewaltsam zerschlagen werden. Unserer Auffassung nach wird die Null-Covid-Strategie in kleinen Schritten über den Sommer 2023 langsam zurückgenommen werden und eine Öffnung der Wirtschaft, wenn überhaupt erst tief ins Jahr 2024 möglich sein. Durch die Proteste der erschöpften und verzweifelten Chinesen wird klar, dass der Preis für den Stolz auf die Null-Covid-Strategie langsam zu groß für die Bevölkerung wird. Es wird dringend ein Plan erforderlich sein, der den medizinischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ambitionen gerecht wird. Der gordische Knoten muss zerschlagen werden.

Dr. Tariq Chaudhry

Dr. Tariq Chaudhry

Economist

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