Der Wochenkommentar

China – der Weg zu mehr Wohlstand wird steinig

März 2021 – China wird wie Mexiko enden, in Stagnation und mit hohen Kriminalitätsraten. Das ist doch Unsinn. Möglich, aber es gibt ernstzunehmende Evidenz, dass einer der größte Absatzmärkte der Welt auf dieses Risiko zuläuft.


Foto Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt Dr. Cyrus de la Rubia

Man kann über China denken, wie man mag. Über einen Fakt besteht weitestgehend Einigkeit: Das Land hat es in den letzten Jahrzehnten geschafft, von einem der ärmsten Länder der Welt zu einem Land mit einem mittleren Einkommen zu werden. Hunderte Millionen von Menschen konnten so in die Mittelschicht aufsteigen und China für viele deutsche Unternehmen zu einem der wichtigsten Märkte werden. Was wäre aber, wenn diese Erfolgsgeschichte sich jetzt nicht mehr fortsetzt? Wenn China auf dem jetzt erreichten Niveau eines mittleren Einkommens verharrt und damit ein ähnliches Schicksal wie große lateinamerikanische Volkswirtschaften erleidet? Klingt vielleicht absurd. Das Buch „Invisible China" von Scott Rozelle und Natalie Hell (2020) behauptet aber genau das. Die Autoren sehen ein erhebliches Risiko, dass China in die Middle-Income-Trap fällt, weil es anders als Taiwan und Südkorea in der Vergangenheit zu wenig für die breite Bildung ihrer Bevölkerung getan hat. Im schlimmsten Fall könnten mittelfristig erhöhte Kriminalität und wiederkehrende Wirtschaftskrisen die Zukunft bestimmen. China könne zwar noch umsteuern, aber die Autoren sind skeptisch, dass dies noch gelingen kann. Deutsche Unternehmen, die auf den chinesischen Markt setzen, sollten derartige Warnungen ernst nehmen.

Das Wachstumsnarrativ zu China geht folgendermaßen: China wird in den nächsten Jahrzehnten seine Aufholjagd erfolgreich fortsetzen und – ähnlich wie das Südkorea, Taiwan, Irland und Israel gelungen ist – zu den entwickelten Ländern aufschließen. Diese Sicht wird unterstrichen mit Zahlen, dass jedes Jahr sechs Millionen Studenten die Universität abschließen und der Staat mehr Ingenieure produziert als jedes andere Land. In Zukunft würde die Zahl der chinesischen Weltkonzerne wie Alibaba und Huawei noch zunehmen. Vielleicht. Das Buch „Invisible China" stellt dieses Narrativ in Frage.

Rozelle und Hell machen eine wichtige Beobachtung. Als Taiwan, Südkorea und ähnlich erfolgreiche Länder es geschafft hatten, ein mittleres Einkommensniveau zu erreichen, hatten mehr als 70 % der arbeitsfähigen Bevölkerungen einen Highschool-Abschluss. In der Türkei, Mexiko, Südafrika bzw. Ländern mit einem mittleren Einkommen, liegt der Wert zwischen 35 % und 47 % (2015). In China ist der Wert mit 30 % noch niedriger. Nun ist es aber so, dass der Erfolg Chinas in den letzten Jahrzehnten auf dem Modell „Werkbank für die Welt" bzw. auf die extrem niedrigen Lohnkosten beruhte. Globale Wertschöpfungsketten machten sich Chinas unendlich erscheinenden Pool an billigen Arbeitskräften zunutze, um in Fabriken ungelernte Arbeitskräfte einzustellen und Handys und Computer zusammenzusetzen, während chinesische Unternehmen ihrerseits einfache Haushaltsgeräte produzierten und in die Welt exportierten. Mittlerweile sind die Löhne der Arbeitskräfte aber so stark gestiegen, dass viele Unternehmen andere Standorte wie beispielsweise Vietnam wählen, da dort die Löhne noch niedrig sind. China muss also auf höherwertige Produkte umschwenken, da nur dort die Margen erreicht werden, mit denen die höheren Löhne bezahlt werden können. Die Produktion technisch anspruchsvollerer Produkte erfordert aber besser ausgebildete Menschen und hier ist, trotz der Fortschritte der letzten Jahre, offensichtlich ein erheblicher Engpass.

Nun könnte man sagen: Das ist nur eine vorübergehende Erscheinung. China hat das Problem erkannt und wird mit einer Bildungsoffensive auch mit dieser Herausforderung fertig. Tatsächlich hat das Land an vielen Fronten in dieser Beziehung große Fortschritte gemacht, die Schulgebäude auf dem Land, wo die meisten Kinder und Jugendlichen leben, wurden modernisiert, die Lehrpläne vereinheitlicht, die Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen verbessert. Das Problem liegt aber tiefer, wie man aus den Studienergebnissen von Rozelle und Hell, die seit mehreren Jahrzehnten die Situation von Kindern und Jugendlichen im ländlichen China tiefgehend analysieren, ablesen kann.

Zunächst muss man wissen, dass das Bildungsproblem in China ein Problem der Kinder und Jugendlichen auf dem Land ist. Denn 70 % dieser Bevölkerungsgruppe lebt auf dem Land. Das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land ist sehr groß. Und das liegt, so unglaublich es klingen mag, zu einem großen Teil an einem ernährungs- und hygienebedingten schlechten Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen. Ein Viertel von ihnen leiden unter Blutarmut, bedingt durch Eisenmangel, was ihre Konzentrationsfähigkeit schwächt. In vielen ländlichen Gebieten haben 40 % der Jugendlichen Darmwürmer. Und bei 20 % der Schüler an der Highschool wird Kurzsichtigkeit nicht erkannt, was ebenfalls die Lernergebnisse signifikant beeinträchtigt. Es geht aber tatsächlich schon im Babyalter los. Untersuchungen der Autoren zeigen anhand eines international standardisierten und schon lange verwendeten Tests, dass 50 % der auf dem Land lebenden Babys einen für ihr Alter unterdurchschnittlichen IQ haben. Unterernährung scheint der wichtigste Grund für dieses Ergebnis. Langzeituntersuchungen zeigen, dass diese Kinder normalerweise niemals einen IQ von mehr als 90 erreichen können (100 ist der Durchschnitt).

Die hier aufgeführten Defizite müsste man eigentlich leicht beseitigen können. Brillen gegen Kurzsichtigkeit, Tabletten zu Centbeträgen gegen Darmwürmer und gegen Anämie und Aufklärungsarbeit in Bezug auf die Versorgung von Babys. Tatsächlich stoßen Maßnahmen, die der Staat ergreift, immer wieder auf Widerstand, geprägt durch Glaubenssätze wie „die Augen werden durch Brillen geschwächt" oder „Darmwürmer helfen bei der Verdauung". Immerhin: Die Tatsache, dass die Probleme sich materiell gesehen zu extrem günstigen Kosten beseitigen ließen, gibt Anlass für Hoffnung, dass in den nächsten Jahren gewisse Fortschritte erzielt werden.

Die niedrige Quote an Menschen in China, die einen Highschool-Abschluss haben, wird man durch eine Offensive bei der Erwachsenenbildung vermutlich nicht beseitigen können. Abgesehen von den damit verbundenen Kosten werden viele Erwachsene schlicht nicht die Voraussetzungen haben, um auf ein signifikant höheres Bildungsniveau zu gelangen – fehlender Schulabschluss und Mangelernährung während der Kindheit können vielfach nicht wieder rückgängig gemacht werden.

Das sind die Probleme auf der Mikroebene, sie haben aber Rückwirkungen auf die Makroebene. Ein Blick auf Länder wie Südafrika und Mexiko zeigt, was passieren kann, wenn Menschen, die ungelernt sind, ihre Arbeit verlieren. Sie schließen sich häufig kriminellen Organisationen an. Chinas Regime mag in der Lage sein, durch strikte Kontrollen zu verhindern, dass das Land diesen Weg nimmt. Die Unzufriedenheit unter den Chinesen dürfte aber zunehmen, da sie die Perspektive verlieren, dass ihre Kinder es einst besser haben werden als sie selber.

Zurück zu den deutschen Unternehmen, die nach China exportieren oder vor Ort tätig sind. Man könnte meinen, dass die großen chinesischen Industrie- und Technologiezentren von den Problemen auf dem Land relativ weit entfernt sind. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass die Millionen von Migranten und die niedrigen Lohnkosten in den vergangenen Jahrzehnten eine wichtige Stütze auch für Technologieunternehmen waren. Ohne die zu Niedrigstlöhnen beschäftigten Lieferanten hat ein plattformbasierter Essensservice kein funktionierendes Geschäftsmodell. Soziale Spannungen zwischen Land und Stadt können den sozialen Frieden gefährden und damit den Standortbedingungen schaden und das Wirtschaftswachstum dämpfen. Höhere Kriminalität könnte sich zunehmend in den Städten bemerkbar machen und die Attraktivität des Standorts Chinas für ausländische Mitarbeiter senken. Die Botschaft des Buchs „Invisible China" ist klar: Die Risiken für China, von dem Weg des jährlich steigenden Wohlstands, von dem sich Unternehmen weltweit auch für die Zukunft hohe Absatzchancen erwarten, sind größer als man das vielfach wahrhaben möchte. Zweifel an dem chinesischen Wachstumsnarrativ sind angebracht.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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