Der Wochenkommentar

Der ominöse neutrale Zinssatz

April 2022 Die US-Notenbank wird in diesem Jahr voraussichtlich noch mehrmals den Leitzins anheben. Die Frage ist nur, wie häufig und wie rasch das vonstatten gehen wird. Bei dieser Überlegung spielt der sogenannte neutrale Zinssatz – neben anderen Faktoren – eine wichtige Rolle.

Dr. Cyrus de la Rubia

Auf dem Papier funktioniert Geldpolitik ganz einfach. Wenn die Inflation sich über dem angestrebten Niveau von 2 % festzusetzen droht, erhöht die Notenbank den Leitzins, im umgekehrten Fall wird der Leitzins gesenkt. Wie weit sollte die Notenbank den Zins erhöhen oder senken? Auch dafür gibt es eine auf den ersten Blick einfache Antwort: Soll die Inflation eingedämmt werden, muss der Leitzins den neutralen Zins überschreiten. Soll hingegen Deflation verhindert werden, muss der neutrale Zins unterschritten werden.

Bei der Umsetzung dieser Politik gibt es jedoch zahlreiche Schwierigkeiten. Wie kann man feststellen, dass sich die Inflation über oder unter dem Zielwert festzusetzen droht? Ist es eigentlich egal, ob die Inflation angebotsseitig (etwa durch Lieferkettenprobleme) oder durch einen Anstieg der Nachfrage entsteht? Und: Was ist eigentlich dieser ominöse neutrale Zins?

Inflationserwartungen sind entscheidend

Während die hohe Inflation der EZB und der Fed Kopfzerbrechen bereitet, richtet sich das Hauptaugenmerk der Notebanker:innen auf die Inflationserwartungen. Steigen diese an, dann besteht die Gefahr, dass Unternehmen in Erwartung einer höheren Teuerungsrate Preise quasi prophylaktisch anheben und dass die Arbeitnehmer:innen in Tarifverhandlungen entsprechend hohe Lohnforderungen durchzusetzen versuchen. Da die Löhne in vielen Wirtschaftssektoren eine wichtige Kostenkomponente darstellen, steigen dann die Produktionskosten weiter an und dieser Anstieg wird an die Konsument:innen weitergegeben, so dass die Inflation erneut angeheizt wird. Willkommen in der Lohn-Preis-Spirale! Das möchten die Notenbanken unbedingt verhindern und daher schauen sich die Verantwortlichen verschiedene Maße der Inflationserwartungen an. Zieht man beispielsweise in der Eurozone die Fünf-Jahres Inflationsswaps (das ist die durchschnittliche Fünfjahres-Inflation in fünf Jahren) heran, ist ein Anstieg der Inflationserwartung auf 2,38% festzustellen, was deutlich über dem Zielwert von 2,0 % liegt. Die Umfrage unter professionelle Prognostikern – das sind hauptsächlich Bankvolkswirte – zeigt ebenfalls einen Anstieg der Inflationserwartungen für fünf Jahre an. Allerdings weichen diese mit 2,1 % kaum von dem angestrebten Wert von 2,0 % ab. In den USA erreichten die aus den inflationsindexierten Staatsanleihen TIPS mit einer Laufzeit von fünf Jahren abgeleiteten Erwartungen Ende März 3,6 % und damit den mit Abstand höchsten Wert seit dem Beginn der Zeitreihe im Jahr 2000.

Insgesamt besteht also Handlungsbedarf. Und das sehen die Fed und die EZB auch so. Die Fed wird Anfang Mai aller Voraussicht nach den Leitzins um 50 Basispunkte anheben. In Bezug auf die EZB setzt sich an den Märkten immer stärker die Erwartung durch, dass diese im Juli, kurz nach der Beendigung der Netto-Anleiheankäufe, den Leitzins und den Einlagenzins um jeweils 25 Basispunkte höher setzen wird. Weitere Zinsschritte sind von den Marktteilnehmern eingepreist.

Ohnmächtige Notenbanken? Nicht ganz.

Natürlich kann man einwenden, dass die Notenbanken gegen eine Inflation, die durch unerwartete Angebotsknappheiten bei Rohstoffen und durch Lieferkettenengpässe hervorgerufen sind, nichts machen kann. In der Tat hat keine Notenbank der Welt die Möglichkeit, die Lieferkettenprobleme aufzulösen und dadurch den Inflationsdruck zu senken. Was sollen dann die Zinserhöhungen? Tatsache ist, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage deutlich höher ist als das gesamtwirtschaftliche Angebot, was eben zu dem Inflationsdruck führt. Zwar kann eine Zentralbank das Angebot an Gütern und Dienstleistungen nicht erhöhen. Sie kann jedoch durch Zinsanhebungen mittelfristig die Investitionsgüter- und Konsumgüternachfrage dämpfen und auf diese Weise die Lücke zwischen Nachfrage und Angebot etwas reduzieren. Das hilft grundsätzlich, etwas Dampf aus dem Inflationskessel zu nehmen. Mit den Zinsanhebungen signalisieren die Notenbanken daher, dass sie durchaus etwas gegen die Inflation unternehmen und sie nicht gewillt sind, eine dauerhafte Zielverfehlung zu akzeptieren. Ist dieses Signal glaubwürdig, werden auch die langfristigen Inflationserwartungen zurückgehen.

Auf der Suche nach dem neutralen Zins

Und damit kommt man zum neutralen Zins. Der neutrale Zins ist der Zins, bei dem die Geldpolitik weder restriktiv noch expansiv auf die Volkswirtschaft wirkt. Eine Bekämpfung zu hoher Inflationserwartungen erfordert grundsätzlich, dass der Leitzins über sein neutrales Niveau hinaus angehoben wird, um auf diese Weise die Konjunktur bzw. die Inflation zu dämpfen. Nur: Wo liegt dieser neutrale Zins und wie rasch muss sich die Geldpolitik in diese Richtung bewegen?

Bei der Fed kann man den langfristig von den Fed-Mitgliedern erwarteten Leitzins – dieser lag im März bei 2,4 % - als den neutralen Zins interpretieren. Im März hat die Fed gesagt, man werde sich zügig in die Richtung eines neutralen Niveaus bewegen. Dort angelangt, wäre es in Abhängigkeit von der Lage der Volkswirtschaft und an den Finanzmärkten angebracht, das Leitzinsniveau noch weiter anzuheben und somit von einer neutralen zu einer restriktiven Geldpolitik überzugehen. Ob der neutrale Zins tatsächlich bei 2,4 % liegt, vermag niemand mit Gewissheit zu sagen. Eine grobe Berechnung zeigt, dass diese Schätzung vermutlich zu niedrig gegriffen ist.

Die Bundesbank definiert den nominalen neutralen Zins auf der Basis von langfristigen Staatsanleihen als den realen neutralen Zins (dieser entspricht in etwa der langfristig möglichen Wachstumsrate einer Volkswirtschaft) zuzüglich der Inflationserwartung sowie einer Inflationsunsicherheits- und einer Liquiditätsprämie. Lässt man der Einfachheit halber die beiden Prämien außen vor, ist lediglich die Inflationserwartung zu berücksichtigen. Zieht man dafür die zehnjährigen Inflationserwartungen heran (USA: 2,85 %, abgeleitet aus den zehnjährigen TIPS), ergibt sich bei einem neutralen Realzins von 1% ein neutraler Nominalzins von 3,85 %. Demnach würde eine Zinserhöhung der Fed auf 2,4 % bei weitem nicht reichen, um einen restriktiven Effekt auf die US-Wirtschaft auszuüben. Die Inflation würde zu hoch bleiben.

Wie sieht es in der Eurozone aus? Geht man von der gleichen Berechnungsweise aus, gelangt man bei einem neutralen Realzins von 0,5 % und einer Inflationserwartung von 2,65 % (abgeleitet aus einer inflationsindexierten Staatsanleihe Frankreichs mit einer Laufzeit bis 2029) zu einem neutralen Nominalzinssatz von 3,15 %. Ein derartiges Zinsniveau ist mit einem „graduellen“ Ansatz, wie ihn Notenbankchefin Christine Lagarde anstrebt – wir erwarten zwei Zinserhöhungen in diesem Jahr à 25 Basispunkte und weitere vier Zinsschritte im nächsten Jahr –, sicher nicht kurzfristig zu erreichen.

Hinter der Kurve

Liegen die Fed und die EZB also weit hinter der Kurve und müssten eigentlich die Geldpolitik wesentlich massiver straffen, als sie das vorhaben? Vermutlich haben die beiden Notenbanken zu spät reagiert. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass man jetzt umso aggressiver vorgehen müsste. Niemandem wäre geholfen, wenn die Notenbanken in Siebenmeilenstiefeln das neutrale Zinsniveau erreichen und überschreiten wollen. Denn in diesem Fall ist zu befürchten, dass die Aktienmärkte einbrechen, sich dadurch die Finanzierungsbedingungen über die Maßen verschlechtern, Unternehmen keine Anschlussfinanzierungen mehr erhalten und in einem Umfeld eines ohnehin knappen Güterangebots Produktionskapazitäten zerstört werden. Es kann nicht darum gehen, die Inflation – koste es was es wolle – auf 2 % herunterzuprügeln. Sicher, die gesellschaftlichen Kosten einer hohen einstelligen Teuerungsrate sind signifikant und die monetären Autoritäten müssen Schritte unternehmen, um hier eine Beruhigung einzuleiten. Man sollte aber nicht so tun, als ob eine auf Sicht von zwei Jahren als realistisch zu erachtende Reduktion des Inflationsniveaus auf 3 bis 4 % inakzeptabel wäre, wenn eine Inflation von 2 % nur mit einer tiefen Rezession erkauft werden kann. Wie gesagt: Auf dem Papier funktioniert Geldpolitik ganz einfach, aber dabei darf das Wohlergehen der Menschen, für die letztlich die Geldpolitik gemacht wird, nicht aus den Augen verloren werden.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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