Dr. Cyrus de la Rubia
Chefvolkswirt und Head of Research
Zum KontaktformularSeptember 2022 Die Europäische Zentralbank wird als die Institution angesehen, die die Inflation steuert. Diese Annahme unterliegt jedoch einem Missverständnis. Ganz unschuldig ist die Notenbank daran nicht.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia
Eigentlich scheint alles ganz einfach zu sein. Die EZB als Hüterin der Preisstabilität steuert die Inflation, in dem sie die Zinsen anhebt, sollte die Teuerungsrate deutlich über das angestrebte Maß von 2,0 % steigen und sie senkt sie, wenn das Inflationsziel signifikant unterschritten wird. Der sogenannten Transmissionsmechanismus wird von der EZB grob gesagt so erklärt: Höhere Zinsen bremsen Investitionen, weil sie teurer zu finanzieren sind, und auch der Konsum wird beeinträchtigt, da viele Konsumenten bei höheren Zinsen nicht mehr bereit sind, Konsumentenkredite aufzunehmen. Beides senkt den Preisdruck. Umgekehrt soll der Mechanismus entsprechend funktionieren. Das Problem: Er tut es nicht bzw. nur sehr verzögert. Schon während der langen Phase nach der Finanzmarktkrise von 2008 bis 2009, als die Eurozone in die Deflation abzurutschen drohte, wurde das Inflationsziel trotz erheblicher Lockerungsschritte fast durchgehend unterschritten. Jetzt, wo die Inflation im Gegenteil erheblich überschritten wird, scheint sich die EZB erneut die Zähne an dem Preisstabilitätsziel auszubeißen. 9,1 % Jahresinflation ist in jedem Fall kein Zeugnis einer gelungenen Geldpolitik. Heißt das, dass die EZB ohnmächtig ist und die Aufgabe der Inflationsbekämpfung einer anderen Institution überlassen sollte? Nein, sie ist nicht ohnmächtig, aber eben auch nicht allmächtig und das hat sie in der Vergangenheit zu selten kommuniziert.
Der Umstand des stark eingeschränkten Einflusses der EZB wird durch die aktuelle Situation relativ gut veranschaulicht. Seit Anfang 2021 hat sich der Anstieg der Preise, die sich bis dahin kaum bewegten, massiv beschleunigt. Parallel dazu stiegen die Preise für Strom, Erdgas und andere Treibstoffe. Zufall? Nein, natürlich nicht. Vielmehr ist diese Komponente, die im Juli 54 % über dem Preisniveau des Vorjahres lag, der wesentliche Treiber der Inflation, gefolgt von den Lebensmitteln, die wiederum stark von den Agrargütern abhängen. Die Preise für Energie und Agrarrohstoffe werden im Wesentlichen an den Weltmärkten bestimmt. Kann die EZB an den Weltmärkten eingreifen und auf diese Weise den gesamtwirtschaftlichen Preisauftrieb bremsen? Theoretisch ja. Die EZB müsste die Zinsen massiv nach oben schleusen – 2 bis 4 Prozentpunkte in ein oder zwei Schritten wären da vermutlich nötig –, woraufhin die Konjunktur einbrechen würde, unterstützt von einem Absturz der Aktienmärkte, Finanzmarktturbulenzen und einer Bankenkrise. Bei einem Anteil der Eurozone von 12 % an der globalen Wirtschaftsleistung wird dies ganz sicher die Preise für die Rohstoffe auf Talfahrt schicken, und voilà, das Problem der zu hohen Inflation ist gelöst. Okay, Sie sehen, das ist nicht die Lösung. Und insofern ist die Antwort auf die Frage, ob die EZB Einfluss auf die Preise der global gehandelten Rohstoffe hat: Im Prinzip ja, aber praktisch nein.
Also sollte die EZB die Finger nicht rühren? Das wäre sehr riskant, denn es würde das Signal gesendet werden, dass die EZB ohnmächtig ist, was nicht der Fall ist. Ein Teil des Preisauftriebs ist auf Angebotsprobleme daheim zurückzuführen, sei es wegen Personalmangels oder wegen logistischer Probleme. Dieses regionale Problem kann deutlich besser von der EZB bekämpft werden. Denn durch eine Straffung der Geldpolitik könnte die Nachfrage und damit auch die Lücke, die zwischen Angebot und Nachfrage herrscht, reduziert werden. Auf diese Weise würde man sich an ein Gleichgewicht in Teilen der Güter- und Dienstleistungsmärkte annähern, so dass hier der Preisauftrieb gebremst wird. So hat man auch die besten Chancen zu verhindern, dass sich der von den Rohstoffen ausgehende Preisauftrieb noch stärker auf die anderen Produktkategorien ausbreitet und in den Inflationserwartungen verfestigt.
Was folgt daraus für die EZB? Sowohl ein besonders aggressiver Zinsschritt als auch ein passives Abwarten, ob sich das Inflationsproblem von alleine löst, sind Strategien, die mit einem zu hohen Risiko behaftet sind. Ob bei der anstehenden Sitzung der Leitzins um 50 oder 75 Basispunkte (BP) angehoben wird, ist per se nicht so entscheidend. Wichtig ist vielmehr, ob damit ein bestimmtes Zinstempo in der Zukunft signalisiert wird. Interpretieren die Anleger einen 75 BP-Schritt beispielsweise in der Weise, dass sich die nächsten zwei weiteren Schritte ebenfalls in dieser Größenordnung bewegen werden, dürfte man in den Bereich „zu aggressiv“ kommen, mit der Gefahr, dass es zu den oben genannten Auswirkungen kommt. Fängt man diese Erwartung hingegen ein, indem man explizit darauf verweist, dass mit einer 75 BP-Anhebung keine Entscheidung über das weitere Straffungstempo getroffen wurde, könnten die Märkte eher ruhig reagieren bzw. den Schritt sogar gutheißen. Es geht daher nicht um Basispunkte, sondern um Kommunikation.