Der Wochenkommentar

Inflation: Wasch‘ mich, aber mach‘ mich nicht nass

Februar 2023 Der Optimismus, die Inflation werde bald deutlich sinken und Zinssenkungen ermöglichen, weicht der Erkenntnis, dass es durchaus ganz anders kommen kann. Die Skepsis ist gerechtfertigt.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Bekommen die Notenbanken die Inflation in den Griff? In den letzten Wochen sind daran zunehmend Zweifel aufgekommen. So preisen mittlerweile die Future-Märkte Anhebungen des EZB-Einlagenzinses auf knapp 3,75 % ein, von derzeit 2,5 %. In Bezug auf die Fed hatte man vor einigen Wochen noch wenig Zweifel daran gehabt, dass Zentralbankchef Jerome Powell zum Jahresende bereits wieder die monetären Zügel lockern könnte. Die Future-Märkte zeigen nunmehr aber an, dass sich dieser Wunsch möglicherweise nicht erfüllen wird. In der Folge sind auch die langfristigen Renditen in den vergangenen Wochen kräftig gestiegen. Woher kommt dieser Sinneswandel bei den Anlegern?

Kein Goldilocks-Szenario

„Wasch mich, aber mach‘ mich nicht nass“ lautet ein bekanntes Sprichwort. Viele Anleger waren der Meinung, dass dieses unmögliche Unterfangen gelingen könnte: Dass die Wirtschaft sich wieder erholt und die Inflation sich gleichzeitig so stark zurückbildet, dass die Notenbanken ihre Zinsen schon bald wieder kräftig senken könnten. Ein Goldilocks-Szenario wäre das Ergebnis, Wachstum und Preisstabilität.

Die Tatsache, dass viele Anleger diesem Szenario nicht mehr anhängen, hat vor allem damit zu tun, dass die Erholungszeichen in den USA etwas Überhand genommen haben. Nicht nur, dass die Arbeitslosenrate auf den tiefsten Stand seit 1969 gefallen ist und der ISM Einkaufsmanagerindex für den Dienstleistungssektor Expansionssignale aussendet. Zu allem Überfluss hat sich auch noch der NAHB Index für den US-Bausektor wieder nach oben entwickelt, so dass schon davon die Rede ist, der Immobilienmarkt könnten seinen Boden gefunden haben. Damit aber geraten die Investoren in Bedrängnis, die felsenfest davon überzeugt sind, dass die Mieten bald deutlich nachgeben werden und damit auch auf die Inflation durchschlagen. Auch die Stärke des Dienstleistungssektors ist aus dieser Warte nicht willkommen, denn genau hier ist die Inflation unangenehm hoch und es gibt kaum Anzeichen eines Rückzugs. Bestätigt sahen sich einige Anleger auch durch die Januar-Inflation in den USA, die weniger stark zurückging als erwartet.

Angst vor zweistelligen Lohnsteigerungen

In der Eurozone ist die Sache nicht grundsätzlich anders gelagert, aber hier macht man sich in erster Linie darüber Sorgen, dass die sich bessernde Konjunktur den Arbeitnehmern bei ihren Lohnverhandlungen zu sehr in die Hände spielt und die Löhne und Gehälter entsprechend stark steigen. Auf Deutschland wird da mit besonderer Aufmerksamkeit geschaut. Die Tarifverhandlungen bei der Post sind gerade gescheitert, dort standen Lohnforderungen von insgesamt 15 % im Raum. Beim öffentlichen Dienst (Kommunen und Bund) fordert die Gewerkschaft Verdi 14 % und damit steigt natürlich auch die Erwartungshaltung in anderen Sektoren. Insgesamt werden in diesem Jahr in Deutschland die Löhne und Gehälter von über 10 Millionen Arbeitnehmer:innen verhandelt. Der öffentliche Sektor kann sich nicht einmal herausreden mit einem Hinweis auf eine einbrechende Konjunktur – der Ifo-Index etwa steigt seit vier Monaten in Folge, auch wenn eine technische Rezession in Q4/2022 / Q1 2023 mittlerweile als wahrscheinlich gelten muss. Die Inflation ist zuletzt wieder gestiegen (CPI Deutschland Januar: 8,7 % YoY), fast 60 % der deutschen Einzelhandelsunternehmen geben an, dass sie die Preise in den nächsten drei Monaten anheben werden, und der Arbeitskräftemangel ist nach wie vor nahe einem Rekordniveau. Dass in diesem Umfeld die Inflation jetzt unbedingt einen kräftigen Rückwärtsgang einlegen muss, liegt nicht gerade nahe.

Die Einsicht, dass die Vermeidung einer Rezession ihre Schattenseiten hat, macht sich auch an den Energiemärkten bemerkbar. Der Ölpreis geht seit Anfang Dezember nicht mehr zurück, da die Erholung Chinas und der Weltwirtschaft perspektivisch zu einer höheren Ölnachfrage führt. Gleichzeitig fährt die OPEC Plus eine relativ aggressive Kürzungspolitik – sie hat im letzten Jahr beschlossen, die Förderquoten um 2 Millionen Barrel/Tag zurückzunehmen –, verstärkt durch die jüngste Ankündigung von Russland, die eigene Förderung zusätzlich um 500.000 Barrel/Tag zu reduzieren.

Blick zurück in die 1970er Jahre

Dazu kommt noch eine historische Dimension. In den 1970er Jahren stieg die Jahresrate der Inflation im Zuge der ersten Ölkrise (Beginn: 1973) in den USA auf rund 12 %, ging dann auf 5 % zurück, setzte dann jedoch trotz sinkender Ölpreise ihren Rückgang nicht fort, sondern stieg wieder an, überschritt Ende der 1970er Jahre die vorangegangene Höchstmarke und erreichte 15 %. Während in Deutschland die Inflation im Laufe der 1970er Jahre auf 2,5% (1978) zurückging und mit dem Beginn der zweiten Ölkrise wieder auf 6 % stieg, blieb die Inflation in Frankreich hartnäckig im hohen einstelligen Bereich, auch nach der Beruhigung der Ölmärkte (1977-1978), und stieg dann im Zuge der zweiten Energiekrise auf über 13 %. In Italien hat die Inflation nach der ersten Ölkrise die 10 %-Marke nicht mehr unterschritten und erreichte Anfang der 1980er Jahre sogar mehr als 22 %.

In den USA musste sich die US-Notenbank ihre Glaubwürdigkeit als Hüterin der Preisstabilität durch das Einleiten einer tiefen Rezession erkaufen, ausgelöst durch einen Liquiditätsentzug, der die kurzfristigen Zinsen unter der Regentschaft von Paul Volcker auf bis zu 20 % ansteigen ließ. In der EU wurde die Glaubwürdigkeit durch die Bundesbank wieder hergestellt, an dessen Deutsche Mark sich eine Reihe anderer EU-Länder banden, was konjunkturell auch immer wieder schmerzhaft war. Heute geht es bei der EZB und der Fed erneut um Glaubwürdigkeit. Und es gibt wenig Zweifel daran: Notfalls nehmen die EZB und die Fed auch eine etwas tiefere Rezession in Kauf, wenn es keine eindeutigen Anzeichen einer Inflationsberuhigung gibt.

In dieser Situation, wo die Glaubwürdigkeit der Notenbanken bereits erheblichen Schaden genommen hat, geht es nicht unbedingt darum, ob die Maßnahmen der Notenbanken wirksam sind oder nicht. Es geht vielmehr darum zu vermeiden, dass die Öffentlichkeit im Fall eines Wiederanstiegs der Inflation den Eindruck gewinnen könnte, die Notenbanken hätten zu früh begonnen die Zügel wieder zu lockern. D.h. selbst wenn ein erneuter Anstieg der Inflation etwa durch eine Ölkrise zustande käme, würden die Zentralbanken dennoch nicht frei gesprochen, sondern stünden erneut unter Rechtfertigungsdruck.

Strukturelle Faktoren

Die eingangs gestellt Frage, ob die Notenbanken die Inflation in den Griff bekommen werden, lautet: vermutlich nicht. Das hat mit den oben genannten sowie mit einer Reihe von strukturellen Gründen zu tun, die in vorangegangen Kommentaren an dieser Stelle bereits mehrmals thematisiert wurden. Stichworte sind die demografische Entwicklung, die Deglobalisierung und die Maßnahmen zum Klimaschutz.

Die Schlussfolgerung daraus ist, dass die Risiken für die Zinsen eher aufwärts als abwärts gerichtet sind. Das betrifft sowohl die kurzfristigen als auch die langfristigen Zinsen. Außerdem werden sich die Zentralbanken über kurz oder lang darüber Gedanken machen, inwieweit ihr Inflationsziel von 2 % flexibilisiert werden sollte, um angesichts der strukturellen inflationstreibenden Faktoren nicht dauerhaft auf der Bremse stehen zu müssen. Es wird der Versuch der Notenbanken sein, sich zu waschen, ohne ganz so nass zu werden.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

Zum Kontaktformular