Der Wochenkommentar

Prognosen in Zeiten von Omikron

Dezember 2021 Wirft Omikron die Weltwirtschaft wieder zurück? Zu diesem Zeitpunkt kann man diese Frage nicht mit ausreichender Sicherheit beantworten, so dass man sich verschiedene Szenarien anschauen sollte.

Dr. Cyrus de la Rubia

Der 15. Buchstabe vom griechischen Alphabet beherrscht derzeit die Schlagzeilen, Omikron. So wurde die neue Variante des Covid-19-Virus benannt und sie hat offensichtlich das Potenzial, die Weltwirtschaft erneut lahmzulegen. Die Weltgesundheitsorganisation hat die Variante als „variant of concern“ gekennzeichnet, eine fragwürdige Ehre, die bisher nur den Varianten Alfa, Beta, Gamma und Delta zuteilwurde (die meisten weiteren zwischen Delta und Omikron liegenden Buchstaben wurden für harmlosere Varianten verwendet). Delta ist die Virusvariante, die tatsächlich die meisten Prognosen über die weitere Wirtschaftsentwicklung wertlos gemacht hat. Omikron könnte in dieser Beziehung eine ähnliche Berühmtheit erlangen, steht sie doch im Verdacht, noch ansteckender als Delta und darüber hinaus auch immun gegen die bisherigen Impfstoffe zu sein. Der Vorstandsvorsitzende von dem Pharmahersteller Moderna, Stéphane Bancel, hatte vor wenigen Tagen mit seinen Zweifeln an der Wirksamkeit der Impfstoffe gegen Omikron die Märkte gehörig durcheinandergewirbelt. Der BioNTech-Chef Ugur Sahin zeigte sich deutlich optimistischer und geht offensichtlich davon aus, dass insbesondere schwere Krankheitsverläufe durch die vorhandenen Impfstoffe vermieden werden könne. Echte Evidenz über die Effektivität der Impfstoffe und Ansteckungsintensität von Omikron wird man aber – so die meisten Fachleute – erst in zwei oder drei Wochen erhalten.

Drei Szenarien

Im Wesentlichen sollte man drei Szenarien diskutieren, mit denen unterschiedlich schwere Auswirkungen für die globale Wirtschaft verbunden wären: Ein schlechtes, ein sehr schlechtes und ein Falscher-Alarm-Szenario. Darüber hinaus muss hier aber auch thematisiert werden, dass die Regierungen sehenden Auges in die Gefahr einer neuen gefährlichen Variante hineingelaufen sind und Maßnahmen auf globaler Ebene zu ergreifen sind, um nachhaltig wieder so etwas wie Normalität und Planungssicherheit in den nächsten Jahren einkehren lassen zu können.

Szenario 1: Höhere Ansteckungsrate, aber Impfstoffe bleiben effektiv

Das schlechte Szenario unterstellt, dass Omikron mit einer wesentlich höheren Ansteckungsrate verbunden ist und sich daher innerhalb weniger Wochen als dominante Variante durchsetzt. Allerdings bleiben die bisherigen Impfstoffe effektiv, insbesondere gegen einen schweren Verlauf der Krankheit. In diesem Fall müssten alle Länder ihre Impfanstrengungen weiter verstärken, denn je ansteckender das Virus ist, desto höher muss die Durchimpfungsrate sein, um eine Herdenimmunität (im Sinne einer Kontrolle der Pandemie) zu erreichen. Beim ursprünglichen Virus wurde dieser Wert bei 70 % vermutet, bei der Alpha-Variante bereits bei rund 80 %, und bei Delta sogar über 85 %. Insofern könnte der Schwellenwert für die Kontrolle der Pandemie im Fall von Omikron in diesem hier diskutierten Szenario sogar über 90 % liegen. Davon sind wir weit entfernt. Umso mehr Zeit benötigt man, um die Phase bis dahin zu überbrücken, was offensichtlich am effektivsten mit relativ umfassenden Lockdowns geschehen dürfte. Mit anderen Worten, es sind etwa in Deutschland noch schärfere Maßnahmen zu erwarten, als wegen der Ausbreitung der Delta-Variante ohnehin geplant sind. In Ländern mit noch niedrigeren Impfquoten, insbesondere im globalen Süden, wäre mit noch strengeren Restriktionen zu rechnen. In dem beschriebenen Szenario dürften die Lockdowns in unterschiedlicher Ausprägung verschärft und je nach Impfquote im Laufe des ersten Quartals, spätestens Ende März 2022 auslaufen. China würde allerdings an seiner Null-COVID-Strategie noch länger als erwartet bzw. über das erste Quartal hinaus festhalten. Das gilt umso mehr, als der chinesische Impfstoff ohnehin als weniger wirksam gilt. Alles in allem würde dies 2022 zu einem schwächeren globalen Wirtschaftswachstum führen, auch wenn ab dem zweiten Quartal wieder mit einer robusten Expansionsrate zu rechnen wäre. Die Finanzmärkte dürften kurzfristig Turbulenzen und eine höhere Volatilität erleben. Nach einigen Wochen sollte auch diese Phase ausgestanden sein.

Szenario 2: Höhere Ansteckungsrate, Effektivität der Impfstoffe stark abgeschwächt

Das sehr schlechte Szenario unterstellt, dass die Übertragbarkeit deutlich höher UND die derzeitigen Impfstoffe signifikant weniger effektiv sind. In diesem Fall wäre mit länger anhaltenden Lockdowns zu rechnen, die sich bis in das zweite Quartal 2022 hinziehen können. Auch wenn die Impfstoffentwickler BioNTech und Moderna in der Lage sein sollten, ihre mRNA-Impfstoffe an Omikron anzupassen und – anders als Anfang 2021 – die Produktion rasch hochgefahren werden kann, würde es einige Monate dauern, bis der neue Impfstoff für die gesamte Bevölkerung verfügbar wäre. Das bedeutet, dass die Politik diese Phase mindestens bis März 2022 überbrücken müsste. In diesem Fall käme es zu länger anhaltende Turbulenzen an den Finanzmärkten. Die Notenbanken müssten ihre Einschätzungen komplett überdenken. Die Europäische Zentralbank dürfte unter diesen Umständen das Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP), dessen Ende für März 2022 vorgesehen ist, verlängern. Bei der US-Notenbank würde man die Rückführung des Anleiheankaufprogramms (Tapering) unterbrechen bzw. die Nettoankäufe wieder aufnehmen. Leitzinserhöhungen, mit denen die Marktteilnehmer bisher zur Mitte des Jahres 2022 rechnen, werden in diesem Fall vermutlich bis 2023 verschoben. Man sollte auch mit zusätzlicher fiskalischer Unterstützung für die von Umsatzeinbußen betroffenen Unternehmen rechnen, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern. Allerdings werden diese Hilfen vermutlich nicht so umfangreich ausfallen wie 2020 und 2021. In diesem Szenario würde auch das Risiko einer Krise in den durch die bisherige Pandemie ohnehin angeschlagenen Emerging Markets steigen, zumal sie erneut die Länder wären, die als Letzte die angepassten Impfstoffe erhalten würden. Im Ergebnis käme es 2022 zu einem deutlich geringeren globalen Wachstum und für die erste Jahreshälfte wäre in vielen Regionen sogar mit einer Rezession zu rechnen.

Eher deflationäre als inflationäre Effekte

In beiden Szenarien dürfte die erneute Verschärfung der Coronakrise per Saldo deflationäre Effekte haben. Zwar ist anzunehmen, dass es erneut zu Problemen bei einigen Wertschöpfungsketten kommt, was für sich gesehen mit höheren Preisen verbunden sein sollte. Allerdings haben viele Unternehmen ihre Wertschöpfungsketten mittlerweile umorganisiert und können daher flexibler als bisher auf neue Lieferunterbrechungen reagieren, sodass der inflationäre Effekt geringer ausfallen würde. Weiter wäre dieses Mal nicht mit einer derart starken Verlagerung des Konsums weg von Dienstleistungen hin zu Gütern zu rechnen, da hier ein gewisser Sättigungseffekt eingetreten sein dürfte – wenn beispielsweise bereits ein neues Sofa gekauft wurde, dann muss nicht wenige Monate später ein Weiteres bestellt werden. Vor allem aber hat man gesehen, dass Omikron die Energiepreise unter Druck bringt. So hat der Ölpreis nach dem Bekanntwerden der Omikron-Variante mehr als 10 % nachgegeben, weil etwa der Flugverkehr bzw. der Kerosinverbrauch stark zu sinken droht. Gleichzeitig sind es etwa in der Eurozone genau die Energiepreise, die ungefähr zur Hälfte den Inflationsanstieg in diesem Jahr ausgemacht haben.

Szenario 3: Falscher Alarm

Das dritte Szenario, das von einem Fehlalarm ausgeht, ist bislang noch unser Basisszenario. Die neue Variante Omikron dürfte kurzfristig für mehr Unsicherheit sorgen, aber nicht wesentlich ansteckender und/oder nicht mit einem schwereren Verlauf verbunden sein. Natürlich ist auch in diesem Fall nicht alles gut. Denn die Delta-Variante ist weiterhin im Umlauf und eine Verschärfung von restriktiven Maßnahmen sind in den meisten Ländern bereits auf dem Weg und werden insbesondere im laufenden Quartal das Wirtschaftswachstum dämpfen. Teilweise werden die Auswirkungen wahrscheinlich in das erste Quartal hineinstrahlen. Für Deutschland rechnen wir beispielsweise mit einer Schrumpfung des BIP in Q4 2021 und einem positiven, aber gedämpften Wachstum in Q1 2022 mit Abwärtsrisiken.

Krise muss global gelöst werden

Falls die Omikron-Variante sich als relativ harmlos herausstellen sollte, wären die Regierungen dennoch gut beraten, bei der globalen Verteilung von Impfstoff einen wesentlich höheren Ehrgeiz zu zeigen. Seit 2020 warnt die Weltgesundheitsorganisation WHO davor, dass die Wahrscheinlichkeit neuer gefährlicher Varianten umso höher ist, je länger sich die Viren global verbreiten und mutieren können. Mit Omikron sollte endlich verstanden worden sein, was mit dem Satz „diese globale Krise kann nur global, nicht national, gelöst werden“ gemeint ist. Es genügt nicht, die eigene Bevölkerung zu immunisieren, wenn gleichzeitig die Menschen ganzer Kontinente wie etwa Afrika nahezu ungeschützt bleiben. Es macht in diesem Zusammenhang im Übrigen auch keinen Sinn, Boosterimpfungen hierzulande gegen zusätzliche Impfstofflieferungen an Länder des globalen Südens auszuspielen. Boosterimpfungen sind wichtig, weil die bisherigen Impfungen ihre Wirkung verlieren. Daher müssen insgesamt die Produktionskapazitäten für Impfstoffe aggressiv erhöht werden. Das geht nur mit öffentlichen Mitteln. Es ist kein Geheimnis, dass auch zweistellige Milliardensummen in diesem Zusammenhang gut investiertes Geld sind. Die Regierungen, die zu entsprechenden Unterstützungszahlungen in der Lage sind, sollten sich auch nicht hinter Argumenten verstecken, dass die Bereitschaft der betroffenen Menschen in einkommensschwachen Staaten wegen politischer oder religiöser Bedenken zu gering ist. Zwar trifft dies häufig zu, aber dann muss genau daran gearbeitet werden, während gleichzeitig die Menschen geimpft werden sollten, die diese Bedenken nicht haben.

Findet bei den Regierungen der wohlhabenden Länder kein Umdenken statt, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass das griechische Alphabet noch weitere neun Buchstaben bereit hält und niemand Interesse daran haben kann, dass schon bald Omega, der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets, für eine weitaus gefährlichere Variante verwendet werden muss.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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