Dr. Cyrus de la Rubia
Chefvolkswirt und Head of Research
Zum KontaktformularMärz 2022 - Die sich abzeichnende Rohstoffknappheit weckt Erinnerungen an die Ölkrisen der 1970er Jahre. In mancherlei Hinsicht steht die Welt heute besser da, aber es gibt auch kritische Unterschiede.
„Die Wirtschaft der Bundesrepublik sieht sich seit Wochen mit der Gefahr einer einschneidenden Energie- und Rohstoffknappheit konfrontiert, die, hielte sie längere Zeit an, die Wachstumsmöglichkeiten erheblich reduzieren würde.“ Sie werden es vielleicht am Stil gemerkt haben, nicht jedoch am Inhalt: Dieses Zitat stammt nicht von heute, sondern aus dem Jahr 1973, festgehalten im Bundesbank-Monatsbericht vom Dezember, kurz nachdem die OPEC-Staaten die Ölproduktion aus politischen Gründen um 5 % gedrosselt hatten, also der ersten Ölkrise. Die Befürchtungen der deutschen Zentralbank waren nicht unberechtigt. 1974 verlangsamte sich das Wirtschaftswachstum erheblich auf 0,9 %, nachdem es 1973 bei für damalige Verhältnisse nicht ungewöhnlichen 4,8 % gelegen hatte. 1975 schrumpfte das BIP um 0,9 % und die Arbeitslosenrate verdoppelte sich auf 2,2 %. Es war die zweite und stärkste Rezession seit der Gründung der Bundesrepublik. Die 1979er Ölkrise erhöhte die Arbeitslosenrate sogar auf über 8 %. Kommt es jetzt angesichts des Kriegs zwischen dem Energiegiganten Russland und der Ukraine zu einem ähnlichen Verlauf?
Unterschiede und Parallelen zu den 1970er Jahren
Parallelen gibt es durchaus, Unterschiede ebenfalls. Der Ölpreisschock war – nach jetzigem Stand – damals wesentlich stärker als heutzutage. So hat sich der Ölpreis nach dem Öl-Embargo von unter 5 US-Dollar/Barrel auf 10 US-Dollar/Barrel mehr als verdoppelt. Die Welt konnte sich angesichts bis dahin mehr oder weniger konstanter Ölpreise höhere Rohstoffkosten gar nicht vorstellen. Gleichzeitig war die globale Ölabhängigkeit damals im Vergleich zu heute mehr als doppelt so hoch.
Während in den 1970er Jahren auch andere Rohstoffe wie beispielsweise Eisenerz, Kohle, Kupfer und Holz im Vorfeld der Ölkrise ebenfalls stark im Preis gestiegen waren, hat das Öl-Embargo der OPEC die Hausse an den Nicht-Öl-Rohstoffmärkten bald zum Erliegen gebracht und einen Preisrutsch ausgelöst. Die aktuelle Krise ist in dieser Beziehung anders gelagert, da sich die Knappheit von einer ganzen Palette von Rohstoffen verschärfen kann. Immerhin liegt der Exportanteil Russlands (zusammen mit der Ukraine) bei Rohstoffen wie Nickel, Aluminium, Palladium sowie Weizen zwischen 20 und 26 %. Bei Industriegasen spielen Russland sowie die Ukraine eine wichtige Rolle. Für die Weltwirtschaft bestehen in dieser Hinsicht eine ganze Reihe von Risiken. Lieferketten werden unterbrochen, Preise für Inputfaktoren zerstören die Wettbewerbsfähigkeit einiger Unternehmen und hohe Lebensmittel- und Treibstoffkosten können politische Turbulenzen auslösen.
Verfügbarkeit zahlreicher Rohstoffe in Frage gestellt
Nickel wird beispielsweise zu 70 % zur Produktion von hochwertigen Stahlsorten eingesetzt und 5 % – mit steigender Tendenz – für die Produktion von Lithium-Ionen-Batterien, die im Fahrzeugbau eingesetzt werden. Russland hat einen Anteil am globalen Nickelexport von rund 20 %. Produktionsunterbrechungen betreffen daher vor allem die Industrie, den Bausektor sowie die ohnehin unter Lieferkettenproblemen leidende Autoindustrie. Sollte Russland als Lieferant ganz oder teilweise ausfallen, wird es einige Monate dauern, bis andere große Nickelproduzenten wie Indonesien, die Philippinen und Kanada die fehlenden Mengen kompensieren können, zu dann vermutlich höheren Preisen. Die Autoindustrie könnte zusätzlich durch mangelnde Verfügbarkeit und / oder höhere Preise von Palladium, Rhodium und Platin getroffen werden, die u. a. für die Herstellung von Katalysatoren benötigt werden. Um den Reigen vollzumachen, besteht die Gefahr, dass Neongas, bei dem die Ukraine einen globalen Exportanteil von über 50 % hat und das in der Regel vom Hafen von Odessa aus verschifft wird, am Weltmarkt fehlt. Genau dieses Industriegas wird aber für die Produktion von Halbleitern benötigt, an denen es in der Autoindustrie so stark mangelt. Immerhin: Die meisten Produzenten haben offensichtlich Neongasbestände, die neun bis zwölf Monate halten.
Viele Lieferketten funktionieren noch
Während bislang die meisten Rohstoff-Lieferketten noch funktionieren, würde ein nach dem Vorbild Großbritanniens verfügtes Verbot für Schiffe aus Russland, EU-Häfen anzulaufen, die Situation deutlich ändern. Aus europäischer Sicht besteht die größte Bedrohung allerdings in einem Stopp der Erdgaslieferungen. Das jüngste Manöver des russischen Präsidenten, bald nur noch Rubel statt Euro oder US-Dollar für Erdgaslieferungen zu akzeptieren, ist möglicherweise ein erster Schritt in diese Richtung. Gemäß einer Studie von S&P Global könnte die EU die jährlichen Erdgaslieferungen von 140 Milliarden Kubikmetern aus Russland innerhalb weniger Monate nur zu einem Drittel u. a. durch verstärkte Importe von Flüssiggas sowie Einfuhren aus Norwegen und Algerien kompensieren. Dem weiteren Angebotsausfall von zwei Dritteln müsste jedoch mit einer Reduktion der Nachfrage nach Erdgas begegnet werden. Ein Teil davon kann relativ schonend passieren: So müsste das zu immerhin einem Sechstel zur Stromerzeugung eingesetzte Erdgas zu einem möglichst großen Teil durch andere Stromerzeugung wie etwa Kohle ersetzt werden. Die hohen Erdgaspreise werden darüber hinaus bei Unternehmen und privaten Haushalten zu Sparmaßnahmen führen. Zweifellos wird auch dann noch eine erhebliche Lücke bestehen, die letztlich durch eine marktgetriebene Nachfragezerstörung passieren wird, d. h. Unternehmen senken ihre Produktion oder scheiden aus dem Markt aus. Der Staat wird in dieser Situation entscheiden müssen, welche Industrien Hilfen bekommen, um die Abwanderung und den Verlust von Arbeitsplätzen zu verhindern.
Negativer Angebotsschock durch höhere Rohstoffpreise
Neben der Verfügbarkeit können nachhaltige Preisanstiege in einzelnen Industrien schwere Schäden anrichten. Betroffene Unternehmen berichten natürlich nicht gerne über die Probleme, die mit massiv steigenden Inputkosten einhergehen. Immer wieder tauchen jedoch Berichte auf, wonach etwa ein AdBlue-Hersteller aus Italien seine Produktion vorübergehend eingestellt hat, Ziegeleien, die grundsätzlich sehr energieintensiv produzieren, ihren Output reduzieren oder auch Düngemittelhersteller angesichts der hohen Kosten für Kali aufgeben. Zwar sind die Preise seit dem Ausbruch des Krieges nach einem anfänglich dramatischen Anstieg wieder etwas gefallen. Jedoch offenbart ein Vergleich mit Anfang 2021, dass die Unternehmen mit einer erheblichen Erhöhung ihrer Kosten zu tun haben, die nachhaltiger ist als bislang erwartet: Der Preis für Erdgas hat sich mehr als verfünffacht, für Nickel müssen 95 % mehr auf den Tisch gelegt werden als vor 15 Monaten, bei Aluminium sind es 80 % und Weizen 73 %.
Folgen für die Konjunktur
Während die Weltwirtschaft zwar weniger energieintensiv produziert als in den 1970er Jahren, ist sie deutlich verzahnter als damals, was sie empfindlicher für weitere Probleme bei Wertschöpfungsketten macht. Gleichzeitig haben viele Unternehmen während der Coronakrise eine durchaus überraschende Resilienz gezeigt und insbesondere die Industrieländer haben ohne zu zögern Milliarden an Wirtschaftshilfen ausgezahlt, um den Unternehmen die notwendige Zeit zur Anpassung an neue Gegebenheiten zu geben. Das ist, wenngleich in einem geringeren Maße, auch dieses Mal zu erwarten. Insbesondere am Arbeitsmarkt dürfte die Reaktion selbst in dem Fall massiver Lieferausfälle verhältnismäßig milde verlaufen, da das Instrument des Kurzarbeitergeldes in vielen Ländern erprobt ist. Zudem klagen viele Unternehmen auch jetzt noch über einen Mangel an Arbeitskräften. Entlassungen sind in diesem Umfeld riskant, da unklar ist, ob bei einem Wiederanlaufen der Wirtschaft diese Menschen noch zur Verfügung stehen.
Konsum könnte stabil bleiben
Interessanterweise hat sich der private Konsum in den ersten anderthalb Jahren nach dem Ausbruch der beiden Ölkrisen der 1970er Jahre im damaligen Westdeutschland relativ stabil gezeigt. Das wäre auch heute angesichts der hohen Ersparnisbildung der vergangenen Jahre nicht überraschend. Unterstützt wurde die Wirtschaft zudem durch eine expansive Fiskalpolitik. Die Investitionsgüternachfrage brach nach dem Ausbruch der Energiekrise hingegen deutlich ein. Tatsächlich gibt es bereits heute anekdotische Evidenz, dass viele Unternehmen ihre Investitionspläne aufgrund der aus dem Ruder laufenden Kosten zurückstellen. Dieses Muster beim BIP-Wachstum war nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in ähnlicher Weise auch in den USA zu beobachten und könnte sich auch dieses Mal wiederholen.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen haben wir unsere Wachstumsprognose für die Weltwirtschaft im laufenden Jahr von 4,4 % auf 3,2 % herunter revidiert. Deutschland wird vermutlich um 2,2 % wachsen (bisher: 3,2 %) und die Wirtschaftsleistung der Eurozone um 2,9 % expandieren (bisher: 4,2 %). Die Risiken sind jedoch klar nach unten gerichtet, auch eine Rezession ist in diesem Jahr in Deutschland möglich.
Und was sagt die Bundesbank dazu? Die (eher dünnen) Kommentierungen zum Russland-Ukraine-Krieg im aktuellen Monatsbericht vom 21. März klingen etwas weniger dramatisch als 1973: „Die Auswirkungen des Angriffs auf die Ukraine dürften die wirtschaftliche Aktivität in Deutschland ab März spürbar belasten.“