Der Wochenkommentar

Weltwirtschaft: Risiken und Lichtblicke

August 2022 Die Lage ist schwierig, aber nicht so schlimm, wie die vielen Hiobsbotschaften suggerieren mögen.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

China-Taiwan-Konflikt, Energiekrise, Hitzewelle, Behinderung der Schifffahrt durch niedrige Flusswasserstände, Neuwahlen im chronisch instabilen Italien, und ein Euro unter der Parität, der die Inflation zusätzlich treibt. Das sind nur einige der Hiobsbotschaften, die täglich die Schlagzeilen in den Medien beherrschen. Also alles hoffnungslos? Nein, viele dieser Nachrichten relativieren sich, wenn man sie genauer unter die Lupe nimmt. Schwierig bleibt die Lage dennoch.

Taiwan-China: Kriegsgefahr gebannt

Beginnen wir mit dem Konflikt zwischen China und Taiwan bzw. China und den USA. Einige Medien sahen nach dem Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, in Taiwan bereits einen durch China ausgelösten Krieg heraufziehen, dem sich die USA nur schwer hätte entziehen können. Mittlerweile sind die von China gestarteten Manöver beendet, die sich als Säbelrasseln herausgestellt haben. Die meisten Experten sind sich einig, dass kurzfristig nicht mit einem Krieg zu rechnen ist. Volle Entwarnung kann man hier allerdings nicht geben, denn Präsident Xi wird offensichtlich an seinem Ziel der „Wiedervereinigung“ festhalten und diese notfalls auch mit Gewalt durchsetzen. Das wurde aus dem kürzlich veröffentlichten Weißbuch zu Taiwan deutlich. Unser Fazit ist: Auf Sicht der nächsten 12 bis 18 Monate ist nicht mit einer destablisierenden Eskalation der Lage zu rechnen.

Erdgas ist unersetzlich, oder?

Die Energiekrise hält uns zunächst weiter in Atem. Die potenziellen Auswirkungen auf die Wirtschaft sind durchaus dramatisch. Ganzen Industriezweigen könnte das Gas abgedreht werden und die privaten Haushalte könnten so massiv an Kaufkraft verlieren, sodass sie ihren Konsum letztlich deutlich reduzieren müssten. Insgesamt wäre eine tiefe Rezession möglich. So wird es vermutlich nicht kommen. Denn es gelingt der Bundesregierung offensichtlich recht gut, die Erdgaslager zu füllen. Derzeit liegt der Füllstand fast bei 80 % der Gesamtkapazität. Bis zum 1. Oktober möchte man 85 % erreicht haben und einen Monat später 95 %. Ob das gelingt, wird auch vom Wetter abhängen. Derzeit scheint Optimismus jedoch angebracht zu sein, zumal viele Unternehmen, vom Chemieunternehmen BASF über die Molkerei Veltins bis zum Stahlproduzenten Arcelor-Mittal dabei sind, einen Teil ihres Erdgasverbrauchs etwa durch die Umstellung auf Erdöl oder den Import von erdgasintensiv produzierten Vorleistungen zu reduzieren. Der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller geht außerdem davon aus, dass die derzeit im Bau befindlichen LNG-Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel, die per Jahreswechsel fertig gestellt sein sollen, einen wichtigen Beitrag zur Entspannung der Erdgaslage leisten werden. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass der Ausbau der Erdgasinfrastruktur den bislang sehr stark segmentierten globalen Erdgasmarkt – die Preise zwischen den USA, Asien und Europa differieren wegen der beschränkten Transportkapazitäten erheblich – zusammenwächst und die Preisdifferenzen deutlich sinken werden. Daher ist perspektivisch wieder mit niedrigeren Erdgaspreisen zu rechnen, die allerdings auch in zwei Jahren noch deutlich über den Durchschnittswerten der letzten zehn Jahre liegen dürften.

Staatliche Unterstützung gefragt

Wie stark die privaten Haushalte und damit auch die gesamtwirtschaftlichen Konsumausgaben unter den hohen Erdgas- und Strompreisen leiden werden, hängt vor allem von der Bundesregierung ab. Sie ist dabei, einige Hilfspakete auf den Weg zu bringen. Leider lässt sich hier noch keine stringente Strategie erkennen. Fakt ist, dass die bisherigen Entlastungsschritte (unter anderem Heizkostenzulage, Energiepreispauschale, Kinderbonus) bei weitem nicht ausreichen, um insbesondere niedrige Einkommensklassen ausreichend zu entlasten. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) beträgt die Nettomehrbelastung bei den einkommensschwächsten 10 % der Haushalte in der Spitze 17,1 % des Haushaltseinkommens nach Steuern. Im Durchschnitt liegt die Mehrbelastung dieser Haushalte bei 3 % ihres Einkommens. Dieser Wert sinkt auf unter 2 % für die einkommensstärksten 10 % der Haushalte. Angesichts der weiter steigenden Erdgas- und Strompreise dürften diese Berechnungen die Mehrbelastung eher unterschätzen. Der Handlungsbedarf von politischer Seite ist also groß, möchte man verhindern, dass Millionen von Haushalten in Existenznöte geraten. Wir gehen daher davon aus, dass die Bundesregierung in den nächsten Wochen einige richtige Entscheidungen treffen wird, und notfalls wird die Aussetzung der Schuldenbremse ein weiteres Jahr verlängert.

Hoffen auf Regen

Die Industrie macht sich zudem Sorgen um die niedrigen Wasserstände im Rhein, Elbe und anderen Flüssen in Europa. Tatsächlich haben diese durch die Hitzewelle und den trockenen Winter ausgelösten Entwicklungen bereits negative wirtschaftliche Auswirkungen. Die Binnenschiffe können häufig nur die Hälfte ihrer Ladung aufnehmen, um nicht auf Grund zu laufen. Dies erhöht die Frachtkosten erheblich und behindert zusätzlich die Lieferketten. Zudem haben die niedrigen Wasserstände und die hohen Temperaturen über verschiedene Kanäle auch preistreibende Implikationen für den Strommarkt. Denn Kohlekraftwerke, die an Flüssen angesiedelt sind, erhalten weniger Kohle als geplant. Und – dies ist in Frankreich ein besonders großes Problem – das stark aufgewärmte Wasser macht die Kühlung der Atomkraftwerke ineffizienter. Dies passiert zwar in jedem Sommer, aber dieses Mal kollidiert diese Entwicklung mit einer besonders umfangreichen Wartungswelle bei den Atomkraftwerken – etwa die Hälfte der französischen Werke sind derzeit abgeschaltet. Zwei Punkte sprechen jedoch für eine baldige Entspannung: Erstens geht der Sommer allmählich seinem Ende entgegen, was mit mehr Regen und höheren Wasserständen einhergehen sollte. Zweitens sind die Wartungsarbeiten bei den Kraftwerken üblicherweise nach vier bis fünf Wochen vorbei. Zwar gibt es bei einigen Anlagen unerwartete Verzögerungen, aber nach und nach sollten die französischen Stromproduzenten wieder ans Netz gehen können und den europäischen Markt entlasten. Fazit ist also, dass die Strompreise sich vermutlich bald wieder zurückbilden werden, wenngleich auch hier die alten niedrigen Niveaus vermutlich nicht erreicht werden.

Kein Italexit

Kommen wir zu Italien. Nach dem Sturz der Regierung von Mario Draghi sind für den 25. September allgemeine Wahlen angesetzt. Wird das das Land ins Chaos und in die nächste Eurokrise stürzen, angesichts der Aussichten, dass ein rechtspopulistisches Bündnis die nächste Regierung stellen wird? Fest steht, dass im Wahlkampf zwei ungleiche Gegner aufeinandertreffen. Auf der einen Seite stehen die Brüder Italiens, Forza Italia und Lega, die sich bereits auf ein Wahlbündnis geeinigt haben und als vereinte Rechte laut Umfragen etwa 45 % der Stimmen bekommen könnten. Auf der anderen Seite stehen die beiden ehemaligen Regierungsparteien Partido Democratico und die Fünf-Sterne-Bewegung, die untereinander zerstritten sind, sowie eine Reihe von kleineren Parteien. Sie kommen insgesamt auf einen ähnlichen Wähleranteil wie das rechte Wahlbündnis, würden aber wegen einiger Besonderheiten im italienischen Wahlrecht – so werden größere Bündnisse gegenüber kleineren Bündnissen überproportional begünstigt – im Abgeordnetenhaus und im Senat deutlich in der Minderheit sein. Trotz des noch hohen Anteils von unentschlossenen Wählern von knapp 40 % muss man wohl davon ausgehen, dass die nächste Regierung Italiens rechtspopulistisch sein wird. Die größte Befürchtung, dass eine derartige Regierung anstrebt, den Euro zu verlassen, dürfte sich nicht bewahrheiten. Keine der genannten Parteien hat sich zuletzt in diese Richtung geäußert. Der Grund dafür ist wohl unter anderem darin zu suchen, dass Italien massiv von dem „New Generation Fund“ profitiert und hier noch weitere Gelder in Zukunft ausgezahlt werden müssen. Eine Euro-feindliche Regierung würde Schwierigkeiten haben, diese Gelder zu erhalten. Dazu kommt, dass die Europäische Zentralbank mit dem TPI (Transmission Protection Instrument) ein Instrument entwickelt hat, mit dem über verstärkte Bondkäufe gegebenenfalls einer Destabilisierung der Finanzmärkte begegnet werden kann. Alles in allem sollte das Italien-Risiko daher auf Sicht der nächsten 12 bis 18 Monate überschaubar bleiben.

Weiche Währung mit Vorteilen

Und dann ist da noch der schwache Euro, der gegen den US-Dollar mittlerweile sogar unter die Parität gefallen ist. Wie soll die EZB da denn die Inflation in den Griff bekommen? Tatsächlich mussten Bürger:innen aus der Eurozone allein wegen der Wechselkursbewegung für Güter aus den USA im Durchschnitt dieses Jahres 10 % mehr bezahlen als sie es im Durchschnitt des Vorjahres getan haben. Dies trifft besonders bei Rohstoffen zu, die in der Regel in US-Dollar denominiert sind und wegen der allgemeinen Knappheit ohnehin massive Preissteigerungen erfahren haben. So weit, so schlecht. Aber es gibt auch gute Nachrichten. Viele Rohstoffpreise wie zum Beispiel für Industriemetalle und Agrarrohstoffe sind in den vergangenen Monaten zurückgegangen, so dass die Euro-bedingte Verteuerung abgemildert oder sogar überkompensiert wird. Dazu kommt ein weiterer Aspekt, der häufig übersehen wird: Ein schwacher Euro erhöht zwar die Importpreise, aber sorgt gleichzeitig dafür, dass die Lohnkosten im Vergleich etwa mit den USA relativ fallen, wodurch sich die Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Damit findet zumindest teilweise ein Ausgleich der negativen Effekte des schwachen Euros statt.

Perspektivisch aufwärts

Insgesamt ist die Nachrichtenlage schlecht und eine Rezession in den nächsten Quartalen würde niemanden ernsthaft überraschen, auch wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass wir in Deutschland an einer solchen knapp vorbeischrammen werden. Insbesondere halten wir eine tiefe Rezession für eher unwahrscheinlich, da vor allem Marktmechanismen, aber sicher auch einige staatliche Stützungspakete den Beginn einer Abwärtsspirale verhindern werden. Das ist ein Lichtblick und damit ist auch klar: Perspektivisch geht es im Laufe von 2023 wieder aufwärts.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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