Der Wochenkommentar

Geoökonomische Fragmentierung als Wachstumsbremse

April 2023 Wie geht es der Weltwirtschaft? Das hängt nicht nur von kurzfristigen Faktoren ab, wichtiger sind noch die langfristigen Strukturveränderungen wie etwa die „geoökonomische Fragmentierung“, die der Internationale Währungsfonds thematisiert.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Der Internationale Währungsfonds hat bei seiner Frühjahrstagung gleich mehrere Themen gesetzt, die deutlich machen, wie stark die Welt dabei ist sich zu verändern. Dabei geht es erstens um die bemerkenswerte Prognose, dass die Weltwirtschaft auf Sicht der nächsten fünf Jahre ein vergleichsweise schwaches Wachstum von 3 % aufweisen wird, während die Inflation auch 2024 noch nicht auf die von den großen Zentralbanken angestrebte Zielmarke von 2 % zurückgegangen sein dürfte. Zweitens wird darauf verwiesen, dass die Kombination aus deutlich erhöhter öffentlicher Verschuldung und anhaltend hoher Inflation den Spielraum der Staaten, fiskal- und geldpolitisch einzugreifen, reduziert hat. Und drittens fällt bei der Lektüre des World Economic Outlook auf, dass der Begriff der geoökonomischen Fragmentierung fast 40 Mal vorkommt, insbesondere in Bezug auf die angespannten Beziehungen zwischen den USA und China. Schließlich hält der IWF noch eine wichtige These für die Kapitalmärkte bereit: Wenn sich irgendwann die Inflationsraten wieder auf Normalniveau bewegen, werden die Zinsen wieder auf die niedrigen Niveaus von vor der Pandemie zurückkehren.

Keine Rezession

Die Wachstumsprognosen des IWF sind beruhigend und beunruhigend zugleich: Eine globale Rezession wird vermieden, aber auf längere Sicht sind die Zeiten hohen Wachstums bei gleichzeitig niedriger Inflation vorbei. Statt einer Expansionsrate von durchschnittlich 3,4 %, die weltweit seit 1980 erreicht wurde, muss man sich jetzt auf eine Wachstumsrate von mittelfristig 3,0 % einstellen. Für das laufende Jahr erwartet der Fonds sogar nur 2,8 %. Für die entwickelten Volkswirtschaften wird im Laufe der nächsten Jahre 1,8 % Wachstum erreicht, 2023 und 2024 gar nur 1,3 % bzw. 1,4 %. Für Deutschland erwartet der Fonds für das laufende Jahr sogar eine marginale Schrumpfung der Wirtschaftsleistung.

Die Begründungen für diese recht moderaten Aussichten haben u.a. mit den Abwärtsrisiken und der hohen Verschuldung des öffentlichen Sektors zu tun sowie mit dem ominösen Begriff der geoökonomischen Fragmentierung, auf die weiter unten einzugehen ist. Auch wenn der Zusammenbruch der Silicon Valley Bank und die dann folgenden Turbulenzen im US-Regionalbankensektor und im Schweizer Bankensektor kurz vor dem Redaktionsschluss des Weltwirtschaftlichen Ausblicks und des Finanzstabilitätsreports passiert sind, haben diese dennoch deutlichen Eingang in die Einschätzungen der IWF-Forscher gefunden. Betont werden die Exponiertheit von US-Regionalbanken gegenüber einer Verschlechterung der Lage von Gewerbeimmobilien, Zins- und Liquiditätsrisiken im Schattenbankensektor sowie die Gefahr einer hartnäckig hoch bleibenden Inflation, die die Zentralbanken veranlassen könnte, ihren Straffungskurs länger als erwartet beizubehalten. Tatsache ist, dass die mittelgroßen Banken der USA (mit einer Bilanzsumme von unter 250 Mrd. Euro) mit einem Anteil von 65 % an ihrem Kreditbuch überdurchschnittlich stark in der Darlehensvergabe für Gewerbeimmobilien engagiert sind. Hier wird vor allem der Bereich der Büroimmobilien kritisch gesehen, wo die Leerstandsraten zuletzt beschleunigt gestiegen sind und per Ende des dritten Quartals mit 17,1 % ein 30-Jahreshoch erreichten. Bezüglich des Schattenbankensektors – dazu zählen u.a. Geldmarktfonds, Versicherungen, Pensionsfonds, Private Equity Fonds –, der ebenfalls in der Finanzierung von Gewerbeimmobilien stark engagiert ist, macht sich der IWF Sorgen, dass in diesem in den letzten Jahren stark gewachsenen Sektor unerkannte Risiken lauern.

Weniger Spielraum für Konjunkturprogramme

Weiter wird berechtigterweise darauf hingewiesen, dass sich die weltweite öffentliche Verschuldung mit 92 % des globalen BIP (Ende 2022) weiterhin über dem Pre-Corona-Niveau befindet. In der Eurozone liegt der Wert bei 91 %, in den USA bei 122 %. Grundsätzlich sind auch höhere Verschuldungsquoten möglich, was eindrücklich durch Japan gezeigt wird, wo die Schulden des Staates bei 258 % des BIP liegen. Angesichts der hohen und hartnäckigen Inflation stoßen die Länder jedoch im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Grenzen. Mit anderen Worten: Möchte ein Staat die Konjunktur in dieser Situation mit mehr schuldenfinanzierten Ausgaben unterstützen, wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen, dass die Inflation weiter steigt oder zumindest auf den hohen Niveaus bleibt und der Wachstumseffekt verpufft. Dies gilt vor allem für Programme, die die Nachfrage der privaten Haushalte in der Breite unterstützen sollen. Gezielte Mehrausgaben etwa zum Klimaschutz dürften die Inflation in einem weit geringeren Ausmaß anheizen. Mit anderen Worten: Der Hinweis des IWF auf die hohe öffentliche Verschuldung und den geringeren Spielraum für Konjunkturprogramme ist aus unserer Sicht keine Entschuldigung dafür, auf langfristig ausgerichtete Ausgabenprogramme zu verzichten, mit denen Ziele wie etwa der Klimaschutz, Digitalisierung oder eine bessere Bildungsqualität verfolgt werden.

Geoökonomische Fragmentierung

Als eine langfristige Wachstumsgefahr betont der IWF die „geoökonomische Fragmentierung“, was in der öffentlichen Diskussion bislang unter den Stichworten Deglobalisierung oder Slowbalization zur Sprache kam. Mit dem Wort geoökonomisch wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen den geopolitischen Spannungen zwischen „dem Westen“ und vor allem China auf der einen Seite und den politisch motivierten Eingriffen in die wirtschaftlichen Beziehungen auf der anderen Seite. Konkret geht es beispielsweise um Sanktionen, die die USA insbesondere im Hochtechnologiesektor gegen China verfügt hat. Aber natürlich zählt auch das Teil-Embargo der G7-Staaten in Bezug auf die Energielieferungen aus Russland dazu, zusammen mit den Gegenmaßnahmen, die aus Russland ergriffen wurden. Mit der von China und Russland betonten „Freundschaft“ zwischen den beiden Ländern besteht darüber hinaus die Perspektive, dass hier ein neuer politischer und ökonomischer Block entsteht, dem sich auch andere Länder, die sich nicht „dem Westen“ zugehörig fühlen, anschließen.

Statt Just in Time lieber Just in Case

Unternehmen beobachten diese Entwicklungen sehr genau, sehen sich aber auch durch Ereignisse wie etwa der Corona-Pandemie, unvorhergesehenen Staus in Seehäfen oder den Produktionsunterbrechungen im Zuge des Atomunfalls in Fukushima im Jahr 2011 ohnehin veranlasst, Lieferketten zu überdenken. Das geschieht durch die Erhöhung der Zahl der Zulieferer, dem Aufbau höherer Lagerbestände bzw. einer Umstellung der Produktion von Just in Time auf Just in Case. D.h. man wappnet sich für Lieferschwierigkeiten, um die Produktionsketten resilienter zu gestalten. In diesem Zusammenhang wird auch verstärkt das „Nearshoring“ und – zuletzt von US-Finanzministerin Janet Yellen gefordert – das „Friendshoring“ diskutiert. Aus Unternehmenssicht sind diese Umstellungen unbedingt notwendig, um Produktionsausfälle zu minimieren.

Der Effekt auf das Potenzialwachstum ist nach Ansicht des IWF jedoch eindeutig negativ. Das ist nachvollziehbar. So wie es üblicherweise einen positiven Wachstums- und Wohlfahrtseffekt hat, wenn zwei Länder beginnen, miteinander Handel zu betreiben und ihre komparativen Vorteile zu nutzen, so wird Wachstum und Wohlfahrt tendenziell gedämpft, wenn diese Beziehung gestört wird, etwa durch politische Eingriffe. Der IWF stellt darüber hinaus einen Trend abnehmender Auslandsinvestitionen fest, wodurch die Vorteile, die mit diesen Investitionen einhergehen können – Transfer von Management- und Technologieknowhow sowie die Diversifizierung der Produktions- und Vertriebsstandorte – verloren gehen. Vor allem Emerging Markets leiden unter diesem Trend, da hier die Abhängigkeit von Direktinvestitionen aus den entwickelten Ländern besonders hoch sind.

Diese Faktoren zusammen sorgen gemäß IWF dafür, dass die Produktivitätszuwächse in der Zukunft unterdurchschnittlich ausfallen und sich die schon seit langem zu beobachtende Tendenz sinkender Realzinsen – der IWF spricht vom natürlichen Zins –fortsetzen wird. Bezogen auf die Nominalzinsen geht der IWF davon aus, dass diese auf das Pre-Corona-Niveau sinken werden, wenn die Inflation wieder auf seine Zielgröße von 2 % gefallen ist. Unseres Erachtens ist dies ein sehr großes „Wenn“. Wir gehen davon aus, dass die Inflation über mehrere Jahre eher in der Nähe von 3+ % als bei 2 % liegen wird, wie an dieser Stelle bereits mehrmals ausgeführt (Demografie spielt dabei eine entscheidende Rolle). Per Saldo gehen wir daher von zunächst noch steigenden langfristigen Nominalrenditen aus, weil die Anleger unseres Erachtens zu optimistisch in Bezug auf den Rückgang der Inflation sind.

Fazit

Die Aufgabe des IWF ist es, auf Risiken hinzuweisen. Insbesondere der Finanzstabilitätsreport ist selten eine Lektüre, die zum entspannten Zurücklehnen einlädt. Dass es einen Monat vor der Veröffentlichung der Reports in den USA zu einem Bankenbeben kam, hat sicherlich auch nicht dazu beigetragen, eine optimistische Tonlage anzuschlagen. Ganz gleich, der IWF liefert wichtige Einschätzungen und auch wir gehen davon aus, dass die Zeit der Hyperglobalisierung, die vor allem bis zur Finanzmarktkrise 2008/2009 zu beobachten war, in dieser Form der Vergangenheit angehört. Ein niedrigeres Wachstum kann aber durchaus auch mit mehr Stabilität einhergehen, und die rasche Eindämmung der Turbulenzen im Bankensektor, zumindest in der Eurozone, ist möglicherweise ein Zeichen dafür, dass etwas mehr Regulierung auch vernünftig sein kann. Ebenso kann eine resiliente Aufstellung der Unternehmen einen Beitrag zu mehr wirtschaftlicher Stabilität leisten. Die jüngsten Konjunkturzahlen geben in jedem Fall keinen Hinweis darauf, dass wir auf einen Abgrund zusteuern und das ist eine gute Nachricht.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

Zum Kontaktformular