Ökonomische Zeitenwende: ein neuer Blick auf die Rezession

Juli 2022 Deutschland erlebt derzeit eine Angebotsrezession. Nicht die Nachfrage lahmt, sondern die Unternehmen können schlichtweg nicht mehr so viel produzieren, wie sie möchten. Damit sind auch die bisherigen Gesetzmäßigkeiten für das Entstehen und Überwinden einer Rezession außer Kraft gesetzt, schreibt Dr. Cyrus de la Rubia jetzt in einem aktuellen Gastkommentar für die „Börsenzeitung“.

Dr. Cyrus de la Rubia

Die Deutsche Lufthansa streicht Tausende von Flügen wegen Personalmangels. Die Autoindustrie reduziert die Produktion bestimmter Modellreihen wegen fehlender Mikrochips. Fahrräder gibt es schlichtweg nicht mehr. Und einige Restaurants sind nur noch wenige Stunden pro Tag geöffnet, weil Koch und Kellner fehlen. „Diese Engpässe sind für Produzenten und Verbraucher anstrengend und ein Ausdruck dafür, dass wir uns einer Angebotsrezession nähern. Nicht die Nachfrage lahmt, sondern die Unternehmen können schlichtweg nicht mehr so viel produzieren, wie sie möchten, wegen geopolitischer Krisen, Corona und wegen einer ungünstigen demografischen Lage“, schreibt der Chefökonom der Hamburg Commercial Bank, Dr. Cyrus de la Rubia, jetzt in einem Gastkommentar für die „Börsenzeitung“ (Ausgabe vom 25. Juli 2022). Damit ist auch die Inflation vor diesem Hintergrund überwiegend angebotsgetrieben – und nicht etwa das Ergebnis einer ungewöhnlich gestiegenen Nachfrage.

Das hat erhebliche Folgen für internationale Konjunkturzusammenhänge sowie für die Wirtschafts- und Geldpolitik, schlussfolgert de la Rubia.

  • Der frühere Satz, „wenn die USA hustet, fängt sich der Rest der Welt eine Grippe“, gilt nicht mehr. Im Gegenteil: Sollte die USA in eine Rezession geraten, dürfte sich das unter dem Strich als eine gute Nachricht für die Eurozone erweisen. Denn ein langsameres US-Wachstum bedeutet, dass die globalen Lieferketten weniger stark beansprucht werden.
  • Auch einer harten Landung Chinas kann nach de la Rubias Meinung heute mit größerer Gelassenheit begegnet werden. Denn sie verstärkte den Rückgang der Preise für Rohöl, Industriemetalle und anderer Rohstoffe, auf die Unternehmen in Deutschland so dringend angewiesen sind
  • Entspannung bei den Lieferketten und niedrigere Rohstoffpreise bedeuten aus Sicht des Chefvolkswirts der HCOB weniger Inflation. Das vermindere den Druck auf die Notenbanken, die Leitzinsen besonders kräftig anzuheben. Je milder die Zinsanhebungen ausfallen, desto weniger werde die Konjunktur – etwa im Bausektor – gebremst.

Arbeitsmarkt: Unternehmen werden sich Entlassungen dreimal überlegen

De la Rubias Fazit: „Für die deutsche Volkswirtschaft bedeutet dies nicht, dass zwingend eine Rezession vermieden wird, wenn andere Teile der Weltwirtschaft in eine solche geraten. Anders als früher würde jedoch ein Abschwung hierzulande nicht verschärft, sondern abgemildert.“

Zudem würden es sich viele Arbeitgeber dreimal überlegen, Arbeitehmer:innen zu entlassen, wüssten sie doch nicht, ob sie angesichts der ungünstigen Demografie beim nächsten Aufschwung ihren Personalbestand wieder so einfach aufstocken können.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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