Der Wochenkommentar

Spanische Hängepartie

Oktober 2023 In Spanien stehen die Zukunft der Wirtschaft, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und grundlegende Herausforderungen im Zentrum der Politik. Pedro Sánchez und Alberto Núñez Feijóo sind die Hauptakteure. Doch welche Wege schlagen sie vor, um die strukturellen Probleme des Landes zu bewältigen?
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Es ist der 24. Mai 2023. Der amtierende spanische Premierminister Pedro Sanchez hat gerade eine herbe Wahlniederlage erlitten und steht angeschlagen in der Ecke des Boxrings. Schnell muss eine neue Taktik her, um nicht den Fight gegen den Kontrahenten, Alberto Núñez Feijóo, Vorsitzender der konservativen Partido Popular, zu verlieren. Dieser hatte am Vortag bei der Regional- und Kommunalwahl Spaniens einen deutlichen Rundensieg eingefahren – ein Machtwechsel bei den Parlamentswahlen im Winter 2023/ 2024 schien reine Formsache zu sein. Doch für Pedro Sanchez kam das Aufgeben nicht in Frage. Er schüttelte sich, verließ die Ringecke und sorgte für eine unerwartete Wende: Als amtierender Premierminister verlegte er die ursprünglich für Dezember 2023 geplanten Parlamentswahlen auf den 23. Juli vor. Hinter diesem überraschenden Vorgehen steckt ein klares Kalkül.

Regionalparteien sind das Zünglein an der Waage

Denn das Widererstarken rechter Parteien hat auch vor Spanien nicht Halt gemacht. Die euroskeptische Vox-Partei um ihren Chef Abascal fällt immer wieder mit Islam- und migrationskritischen Aussagen auf; sie ist gegen gleichgeschlechtliche Ehen und Abtreibungen. Außerdem befürwortet die Partei eine zentralistische Verfassung und ist gegen die Autonomierechte die von einigen spanischen Regionen eingefordert werden. Pedro Sánchez hat das Vorverlegen der Wahlen mit einer politischen Kampagne begleitet. Ein wiederkehrendes Element im Wahlkampf von Pedro Sánchez bestand darin, immer wieder Angst vor einer rechten Koalition zu schüren. Mit dieser Taktik rettete er sich in die nächste Runde des Kampfes, denn die Umfrageergebnisse haben sich nur teilweise bewahrheitet. Die rechtsextreme Vox konnte nicht das erwartete Ergebnis erzielen, während die sozialistische PSOE mehr Stimmen hinzugewann. Eine Koalition zwischen VOX und PP reicht nicht für die erforderliche absolute Mehrheit von 176 Stimmen im Parlament. König Felipe hat zunächst dem Wahlsieger, der PP um Alberto Núñez Feijóo, die Aufgabe erteilt, eine Regierung zu bilden. Die PP hat allerdings ihre Chance vertan. Jetzt geht der Kampf in die nächste Runde – und für Sánchez besteht die Möglichkeit, den Ring als Sieger zu verlassen. Den regionalen, separatistischen Parteien fällt nun die Rolle als Königsmacher in den Schoß; begeben sie sich in eine sozialistische Koalition, wird dies für eine absolute Mehrheit im Parlament reichen. Die Debatte hat in der jüngsten Zeit die spanischen Gemüter erhitzt. Die Junts per Catalunya (Katalonien) um ihren im Exil lebenden Anführer Carles Puigdemont nutzen die Situation und haben kaum zu erfüllende Forderungen an Sanchez gestellt, unter anderem die Amnestie für katalanische Aktivisten.

Wirtschaftspolitische Richtungsentscheidung

Im Wahlkampf dominierten zuletzt gesellschaftspolitische Themen wie das im Sexualstrafrecht verankerte „Nur-Ja-heißt-Ja“-Gesetz. Doch wie würde sich ein Regierungswechsel auf die Wirtschaft auswirken? Die Regierung Sánchez hat in den Krisenjahren vor großen Maßnahmenpaketen nicht zurückgeschreckt. Spanien war in der Inflationsbekämpfung im europäischen Vergleich am erfolgreichsten. Durch umfassende Maßnahmen, die die Mehrwertsteuersenkungen auf Lebensmittel und Strom beinhalten, sowie eine Mietpreisbremse und den iberischen Gaspreisdeckel hat man schnell und effektiv reagiert. Auch durch diese Maßnahmen, die der Kaufkraft der privaten Haushalte zugute kamen, verzeichnet Spanien dieses Jahr ein überdurchschnittliches Wachstum; die Bank of Spain erwartet 2023 ein BIP-Zuwachs von 2,3 %, getragen unter anderem von einem Tourismussektor, der in diesem Jahr erstmals an das Niveau vor der Pandemie anknüpft. Doch ganz so robust wird es wohl nicht bleiben: Der bis September vorliegende Frühindikatoren HCOB PMI für das Verarbeitende Gewerbe zeigt seit Monaten bereits nach unten und liegt seit April bereits im kontraktiven Bereich. Der Dienstleistungssektor stagniert seit zwei Monaten mehr oder weniger, zieht man den entsprechenden HCOB PMI heran. Das außenwirtschaftliche Umfeld, vor allem Spaniens wichtigste Exportdestinationen Deutschland und Frankreich, schwächelt. Die Finanzierungsbedingungen verschärfen sich, was in Spanien ein zusätzliches Problem hervorruft, denn rund 30 % der Hypothekendarlehen sind variabel verzinst. Hoffnung macht die Umsetzung von Digitalisierungs- und Klimaschutzprojekten im Rahmen der Next-Gen-EU Förderung. Spanien ist nach Italien zweitgrößter Empfänger von Darlehen und Zuschüssen. Spanien schafft es besser als Italien, diese Mittel, die von der EU an ein Geflecht aus Reformen und Meilensteinen geknüpft sind, abzurufen.

Große strukturelle Herausforderungen

Doch ob es jetzt Pedro Sánchez oder Alberto Núñez Feijóo wird: Spanien steht vor großen strukturellen Problemen. Das Land leidet seit Jahrzehnten unter hoher Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung in Höhe von 112% des BIP und die daraus resultierenden Zinszahlungen schränken den Ausgabespielraum ein. Weitere Herausforderungen stellen die unterdurchschnittliche Produktivität sowie das überlastete Rentensystem dar. Ein wichtiges Thema für Spanien ist grundsätzlich auch die insbesondere im Süden verstärkt um sich greifende Trockenheit. Die Energiepolitik inklusive der Klimawende ist ein weiterer Punkt. Welche Antworten geben Pedro Sanchez und Alberto Nunez Feijoo auf diese Fragestellungen? Yolanda Diaz, die Arbeitsministerin im Kabinett Sanchez hat sich der Problemen auf dem Arbeitsmarkt angenommen und Reformen angeschoben. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt jedoch noch immer bei rund 25 %, die Gesamtarbeitslosenquote bei rund 12 %. Europaweit gehört Spanien mit diesen Werten zu der traurigen Spitze Europas. Im historischen Vergleich steht Spanien allerdings recht solide da; die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie seit 13 Jahren nicht mehr. Die Regierung führt dies auf die arbeitnehmerfreundlichen Reformen zurück: Befristete Arbeitsverträge werden nach sechs Monaten in unbefristete Verträge umgewandelt und Saisonverträge wurden entfristet, was Arbeitnehmern mehr Sicherheit bietet und saisonalen Branchen mehr Stabilität verleiht. Im sozialistischen Lager wird diese Reform als Erfolg gefeiert. Bei genauerer Betrachtung fällt allerdings auf, dass viele Menschen mit Saisonvertrag, wenn sie außerhalb der Saison beschäftigungslos sind, nicht mehr als arbeitslos gelten. Die Statistik ist also mit Vorsicht zu genießen. Dennoch: Im Vergleich zum Vor-Pandemie-Niveau ist auch die Anzahl der geleisteten Stunden (gesamtwirtschaftlich) um 2 % gestiegen. Die Regierung Sánchez hat es geschafft, wirksame Reformen am Arbeitsmarkt zu etablieren. Feijóo hat angedeutet, dass unter einer möglichen PP-Regierung eine Überarbeitung der Arbeitsmarktreformen von Díaz bevorstehen könnte.

Staatsschulden, Energiewende und niedrige Produktivität

Ein weiteres strukturelles Problem sind die Schulden. Die Staatsschulden stagnierten zuletzt auf einem hohen Niveau von etwa 112 % des BIP. Vor dem Hintergrund der deutlich gestiegenen Zinsen, die uns vermutlich noch lange begleiten werden, wird die Zinsbelastung Spanien in den nächsten Jahren steigen. So sind die Renditen zehnjähriger Staatstitel mittlerweile auf 4,0 % gestiegen, sie lagen über das Jahr 2021 noch bei 0,4 %. Da die durchschnittliche Laufzeit der spanischen Staatsanleihen mit knapp acht Jahren recht hoch ist, muss nicht mit einem sprunghaften, aber dennoch spürbaren Anstieg der Zinsbelastung gerechnet werden. 2022 lagen die Zinszahlungen des öffentlichen Sektors bei 2,4 % des BIP. Vor zehn Jahren, als die Verschuldung bei 105 % des BIP und das durchschnittliche Zinsniveau für zehnjährige Staatsanleihen bei 2,7 % lag, mussten 3,5 % des BIP für Zinszahlungen aufgewendet werden. Feijóo wird als fiskalpolitisch konservativ angesehen und setzt sich für einen ausgeglichenen Haushalt sowie die Reduzierung der Staatsschulden ein. Auch die PSOE spricht sich in ihrem Wahlprogramm dafür aus, den Haushalt zu konsolidieren und das strukturelle Defizit nachhaltig abzubauen. Die PSOE setzt allerdings traditionell auf einen stärkeren Sozialstaat. Feijóo hingegen steht für einen schlankeren Staat, möchte die Zahl der Ministerien verringern. Gleichzeitig möchte er die Einkommenssteuersätze für Einkommen unter 40.000 € senken, um die Auswirkungen der Inflation abzufedern. Das wird dann wiederum wohl nicht ohne Einnahmeverluste möglich sein und widerspricht dem Anliegen, den Staatshaushalt zu konsolidieren.

In Bezug auf die Energiewende und den Ausbau erneuerbarer Energien sind sich PP und PSOE einig, den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien fördern, um die Standortvorteile Spaniens zu nutzen. Die PSOE hat das Ziel für die Biogaserzeugung bis 2030 verdoppelt, für grünen Wasserstoff fast verdreifacht. Auch die PP möchte die Energiepolitik durch die Umstellung auf erneuerbare Energie ausbauen. Allerdings sind sie flexibler, möchten weiterhin auch auf Kernkraft setzen; eigentlich sollen bis 2035 die letzten Atommeiler abgeschaltet werden. Beide Kontrahenten sprechen sich für Investitionen in die Wasserinfrastruktur aus, die Landwirte und Industrie angesichts der langen Dürreperioden fordern. Die Haltung der PP zur Klimapolitik stimmt zwar mit der anderer konservativer Parteien in Europa überein, aber die Möglichkeit, eine Koalition mit der populistischen Partei Vox zu bilden, könnte diese Position beeinflussen.

Keiner wagt sich an die Rentenreform

In Bezug auf die vergleichsweise niedrige Produktivität liegt diese laut der spanischen Zentralbank 14 Prozent unter dem Durchschnitt der Euro-Zone. Dies ist hauptsächlich auf die Präsenz von dienstleistungsorientierten Branchen wie dem Tourismus, die geringe Unternehmensgröße, niedrige Forschungs- und Entwicklungsausgaben sowie ein vergleichsweise niedriges Bildungsniveau zurückzuführen. Aktive Maßnahmen, um diesen Rückstand aufzuholen, stehen nicht im Vordergrund der Wahlprogramme. Was die notwendige Rentenreform angeht – ein undankbares Thema für Politiker, die wiedergewählt werden möchten - hat Pedro Sánchez dieses Thema vermieden. In Feijóos 100-Tage-Plan war das Thema ebenfalls nicht vorgesehen. Unabhängig davon, ob Feijóo die Führung in einer PP-Regierung im nächsten Jahr übernimmt oder eine erneuerte PSOE-Regierung unter Sánchez ansteht, sind kurzfristige Rentenreformen unwahrscheinlich.

Mit Neuwahlen in die nächste Runde?

Insgesamt sieht es nicht so aus, als ob eine konservative oder eine sozialistische Regierung die ganz großen Lösungen für die strukturellen ökonomischen Probleme bieten wird. In den nächsten Wochen hat Pedro Sanchez die Möglichkeit, durch das Paktieren mit den separatistischen Parteien die absolute Mehrheit im Parlament zu erlangen. Es bleibt abzuwarten, ob er den Kampf gewinnen und mit einem blauen Auge davon kommen kann – oder es geht in Spanien mit Neuwahlen in die nächste Runde.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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