Der Wochenkommentar

Von „higher for longer“ zu „back to normal”

Oktober 2023 In der Eurozone ist die Inflation im September überraschend deutlich auf eine Jahresrate von 4,3 % gefallen, von 5,2 % im Vormonat. Die langfristigen Bundrenditen machten in der Folge einen Satz nach oben statt nach unten. Wie schräg ist das denn?
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Es gibt Zeiten, in denen das Geschehen an den Rentenmärkten recht einfach zu verstehen ist. Etwa wenn die Investoren auf erhöhte Risiken reagieren und Aktien abstoßen. Dann fliehen sie in den „sicheren Hafen“ der Staatsanleihen, was die Preise eben dieser nach oben treibt und die Renditen drückt. Oder wenn gute Wachstumszahlen herauskommen und die Anleger verstärkt in Aktien ihr Vermögen anlegen, aber weniger in Staatsanleihen. Dann sinken dort die Kurse bzw. die Renditen steigen. Auch die Reaktion auf Inflationszahlen ist in diesen Zeiten straight forward: wenn die Inflation sinkt, gehen die Renditen runter et vice versa.

Brüche in alten Reaktionsmustern

Und dann gibt es Zeiten, in denen die Rentenmärkten mit dem Rüstzeug der alten Reaktionsmuster nur schwer zu interpretieren sind. Wenn beispielsweise die Inflation kräftig sinkt und die Renditen dann einen Sprung nach oben machen. Oder wenn die Aktienkurse einbrechen, ohne dass die Renditen hinterherziehen. Genau diese Brüche mit alten Mustern sind in den vergangenen Wochen verstärkt zu beobachten. Wenn man sie nicht versteht, wird es noch schwieriger als es ohnehin schon ist, eine Abschätzung über die zukünftige Renditeentwicklung abzugeben.

Von der Deflations- zur Inflationsangst

Kurzer Rückblick: Nachdem die EZB in den vergangenen zehn Jahren Mühe hatte, eine deflationäre Abwärtsspirale zu verhindern, geht es seit Ende 2021 darum, den plötzlichen Anstieg der Inflation wieder einzudämmen. Diesen Kampf hat die Notenbank aufgenommen, in dem sie die raschesten Zinserhöhungen seit dem Bestehen der Eurozone umgesetzt hat. Die Rentenmärkte reagierten auf die straffere Geldpolitik grundsätzlich so, wie es zu erwarten war. Die kurzfristigen Renditen stiegen, weil sie stark an den Leitzinsen verankert sind. Die langfristigen Renditen gingen wesentlich langsamer nach oben, sodass sich die Zinsstruktur (zehnjährige minus zweijährige Bundrenditen) auf bis zu 80 Basispunkte invertierte. Die Inversion der Zinsstruktur ist durchaus ein Phänomen, dass typisch ist für Phasen, in denen die Notenbank die kurzfristigen Zinsen anhebt.

Inversion normalisiert sich vom langen Ende

Untypisch ist dagegen, dass die Inversion der Zinsstruktur sich nunmehr allmählich auflöst, ohne dass es zu Leitzinssenkungen gekommen wäre. D.h. dieses Mal scheint sich die Zinsstruktur vom langen Ende her zu normalisieren, sprich: Die langfristigen Renditen steigen nunmehr nachgelagert an, obwohl sich eine Rezession abzeichnet und die Inflation rückläufig ist. Damit dürften viele Investoren auf dem falschen Fuß erwischt worden sein.

Higher for longer gilt auch für die Inflation

Was also ist da los? Einer Notenbank steht nicht nur das Instrument der Leitzinsen zur Verfügung, sondern auch das Instrument der Kommunikation und des Erwartungsmanagements. Dies ist häufig für die langfristigen Renditen wichtiger, als die Veränderung des kurzfristigen Leitzinses. Und so scheint es auch dieses Mal zu sein. Die EZB hat sehr deutlich kommuniziert, dass sie die Leitzinsen für einen längeren Zeitraum hoch lassen wird. Diese Botschaft wird untermauert durch eine Inflation, die trotz ihres Rückgangs noch mehr als doppelt so hoch liegt wie angestrebt sowie Inflationserwartungen, die mit 2,5 % ebenfalls das Ziel von 2,0 % verfehlen. Die Botschaft „higher for longer“ gewinnt vermutlich aber auch deshalb an Glaubwürdigkeit, weil strukturelle Faktoren dafür sprechen, dass auch die Inflation selber für einen längeren Zeitraum überdurchschnittlich hoch bleiben wird. Die an dieser Stelle häufiger thematisierten Punkte sind die demografiebedingte Arbeitskräfteknappheit, was zu stärker steigenden Löhnen führen dürfte, und die höheren Kosten im Zusammenhang mit Klimaschutzmaßnahmen. Auch eine Politik, die die Globalisierung bremst oder sogar umkehrt, muss an dieser Stelle genannt werden, verteuert sie doch ebenfalls die Produktion.

Was machen die Notenbanken?

Werden die Notenbanken und speziell die EZB die Leitzinsen daher weiter erhöhen? Wahrscheinlich nicht, denn allein die Ansage, die Leitzinsen bis tief in das Jahr 2024 auf dem jetzigen Niveau zu halten, wirkt bereits restriktiv. Denn sie bewirkt, dass die langfristigen Renditen steigen, was wiederum die Investitionstätigkeit dämpft. Man kann auch sagen, dass die Ankündigung, dass Leitzinssenkungen noch lange nicht in Sicht sind – Lagarde sagte bei der letzten Pressekonferenz im September, man habe nicht einmal ansatzweise über Zinssenkungen gesprochen – ein Substitut für Leitzinserhöhungen darstellt.

Noch gehen die Märkte von zwei bis drei Leitzinssenkungen in der Eurozone im kommenden Jahr aus. Jede Art der EZB-Kommunikation, die das in Zweifel zieht und Leitzinssenkungen ausschließt, aber auch Daten, die im Widerspruch zu der Erwartung eines nachhaltigen Rückgangs der Inflation stehen, werden die langfristigen Renditen weiter nach oben treiben. Sie würden eine weitere Zinsanhebung unseres Erachtens unwahrscheinlicher machen und die Normalisierung der Zinsstruktur vorantreiben. Statt „higher for longer“ könnte es dann bald heißen „back to normal“.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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