Der Wochenkommentar

Acht Milliarden Menschen: Demografie, Wohlstand und Zinsen

November 2022 Es dürfte schwer sein, den materiellen Wohlstand in den nächsten Jahrzehnten zu halten. Es gibt aber viele Ansatzpunkte, um mit den Herausforderungen fertig zu werden.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia.

Dr. Cyrus de la Rubia

Acht Milliarden Menschen leben nunmehr auf dieser Welt. Das sind 5,5 Milliarden Menschen mehr als 1950. Bis 2037 wird die Bevölkerung voraussichtlich auf 9 Milliarden und 2058 auf 10 Milliarden Menschen zunehmen. Damit, so könnte man meinen, ist ein kräftiges Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahrzehnten vorprogrammiert. Denn all diese Menschen wollen und müssen konsumieren und eine steigende Nachfrage ist bekanntlich der wichtigste Motor für die konjunkturelle Entwicklung. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Denn ganz entscheidend ist sowohl die regionale Struktur als auch das Altersgefüge der demografischen Entwicklung. Das wiederum hat auch Konsequenzen für die langfristige Inflation und die nominale Renditeentwicklung.

Regionale Struktur der demografischen Entwicklung

Rund die Hälfte des von der UN projizierten Bevölkerungswachstums entfällt auf die Länder Indien, Ägypten, Nigeria, Pakistan, Äthiopien, Philippinen, die Demokratische Republik Kongo und die Republik Tansania. Diese Länder vereinigen auf US-Dollar Basis jedoch nur 5 % der weltweiten Wirtschaftsleistung auf sich. Ein aufgrund der Bevölkerungsentwicklung überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum dieser Länder wird insofern für die Weltwirtschaft auf mittlere Sicht keinen spürbaren Einfluss haben. Dazu kommt, dass in diesen Ländern ein strukturelles Defizit beim Ausbildungsstand der Bevölkerung festzustellen ist. In Indien etwa haben 70 % der Erwachsenen keine Sekundarschulausbildung. Unter diesen Umständen ist ein dauerhaftes überdurchschnittliches Wachstum schwer zu erreichen, wie das anhand vieler Länder deutlich wird, die sich – wie etwa Brasilien, Südafrika und die Türkei – in Bezug auf ihr Pro-Kopf-Einkommen seit Jahrzehnten kaum weiter entwickelt haben. Sie befinden sich laut Aussagen vieler Forscher in der sogenannten Falle des mittleren Einkommens.

Abhängigkeitsquote steigt

Dazu kommt, dass es relativ gesehen immer weniger Menschen gibt, die als arbeitsfähig gelten, im Verhältnis zu den Menschen, die entweder als Kinder oder als ältere Menschen nicht am Arbeitsleben teilnehmen (hier definiert als junge Menschen unter 15 und ältere Menschen über 64). Mit anderen Worten: Die sogenannte Abhängigkeitsquote steigt. Während beispielsweise in den entwickelten Ländern auf 100 Menschen im arbeitsfähigen Alter rund 55 Personen kommen, die nicht zu der arbeitsfähigen Bevölkerung gezählt werden, wird diese Zahl 2030 bereits 60 überschritten haben und 2040 fast bei 70 liegen. Das liegt an den dramatisch gesunkenen Geburtenraten und der Tatsache, dass die Lebenserwartung immer weiter steigt.

Das hat weitreichende Konsequenzen für den Wohlstand der Länder. Denn zunächst bedeutet diese Entwicklung, dass die Güter und Dienstleistungen, die von einer steigenden Zahl von Menschen konsumiert werden, durch eine relativ fallende Zahl von Menschen bereitgestellt werden muss. Das Argument, dass ältere Menschen weniger konsumieren als diejenigen mittleren Alters, übersieht, dass eine 75- oder 80-jährige Person zwar nicht jede Woche ein Rockkonzert besucht oder sich das neueste technische Gadget anschafft, aber – leider – häufig gepflegt werden muss. Damit bleibt auch der Konsum der älteren Generation relativ hoch.

Vier Stellschrauben

Kann es gelingen, unter diesen Umständen den Wohlstand auf dem derzeitigen Niveau zu halten oder gar auszubauen? Auf den ersten Blick gibt es vier Stellschrauben, wie diesem Problem begegnet werden kann: Das ist eine weitere Erhöhung des Alters, bis zu dem Menschen arbeiten, eine Erhöhung der Beteiligung von Frauen am Arbeitsleben, Zuwanderung sowie technischer Fortschritt. Jeder dieser Lösungsvorschläge hat mehr oder weniger große Haken.

Länger arbeiten

Natürlich kann das Renteneintrittsalter weiter erhöht werden, während viele Menschen auch von sich aus bereit sein dürften, länger zu arbeiten und auch mit über 70 Jahren noch ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Dies passt grundsätzlich auch zu dem medizinischen Fortschritt, der es vielen Menschen ermöglicht, bis ins hohe Alter relativ fit zu bleiben. Dennoch bleibt es eine unausweichliche biologische Tatsache, dass die Produktivität von älteren Menschen im Durchschnitt abnimmt. Das gilt sowohl für körperliche als auch für geistige Tätigkeiten. Während es unter anderem in der Welt der Unternehmen und der Politik immer wieder Persönlichkeiten der älteren Generation gibt, die es ohne weiteres mit Dreissigjährigen aufnehmen können, gilt dies nicht für den Durchschnitt dieser Bevölkerungsgruppe.

Frauen an die Macht

Eine Erhöhung der Beteiligung von Frauen am Arbeitsleben ist eigentlich ein durchaus vielversprechender Ansatz. Allerdings ist hier in den vergangenen Jahren bereits relativ viel passiert. In Deutschland etwa hat der Anteil berufstätiger Frauen von 45 % im Jahr 1990 auf 55 % im Jahr 2019 zugenommen und in Großbritannien immerhin von 52 % auf 57 %. Allerdings zeigt die zögerliche Dynamik in Frankreich (von 46 auf 50 %) und Japan (von 50 % auf 51 %) sowie die in diesem Zeitraum praktisch stagnierende Entwicklung in den USA (56 %), dass der Spielraum für eine weitere Ausweitung des Frauenanteils am Arbeitsmarkt begrenzt ist.

Willkommen!

Und wie sieht es mit einer verstärkten Zuwanderung aus? Regional kann das eine wichtige Maßnahme sein, um dem demografischen Trend etwas entgegenzusetzen. In Europa jedoch ist die Entwicklung in allen Ländern relativ ähnlich. Kommen beispielsweise mehr Menschen aus Osteuropa nach Deutschland, kann das hier den Arbeitskräftemangel lindern, in den betroffenen Ländern Osteuropas die Spannungen am Arbeitsmarkt jedoch noch verschärfen. Die Wohlstandsspreizung in Europa würde dadurch zunehmen. Bei einer verstärkten Zuwanderung von den Regionen mit einem weiterhin sehr hohen Bevölkerungswachstum – aus Indien etwa oder dem afrikanischen Kontinent – dürften der nach europäischen Maßstäben relativ niedrige Bildungsstand sowie kulturelle Unterschiede eine besondere Herausforderung darstellen. Das sollte uns nicht davon abhalten, Menschen willkommen zu heißen, die hier arbeiten möchten. Davon auszugehen, dies sei das Patentrezept, um unseren Wohlstand zu halten, wäre jedoch naiv.

Digitalökonomie

Und dann sind da noch die vielbeschworenen Produktivitätsgewinne. Alle sprechen doch von Digitalisierung, Automatisierung, Künstliche Intelligenz und den Einsatz von Robotern. Muss man da nicht eher damit rechnen, dass bald zu viele Menschen arbeitslos sind, statt dass sich der Arbeitskräftemangel verstärkt? Richtig ist, dass in vielen Sektoren die Arbeit produktiver – sprich: mit weniger Menschen als früher – erledigt wird, auch in hochqualifizierten Arbeitsfeldern. Denken Sie beispielsweise an die heutigen für jeden zugänglichen Übersetzungsprogramme, die die Übersetzung einfacher Texte in eine große Palette von Sprachen durch professionelle Übersetzer nahezu überflüssig machen. Und auch wenn KI-Programme mittlerweile malen und komponieren können – mit teilweise unglaublichen Ergebnissen – werden dadurch erstens nicht alle Künstler arbeitslos (Kunst hat Seele, Computer nicht) und zweitens gibt es einige elementare Jobs, auf die eine humane Gesellschaft auch langfristig nicht verzichten wird wollen. Dazu gehört der immer wichtiger werdende Beruf des Pflegedienstes. In diesem Bereich im großen Stil Roboter einzusetzen, ist illusorisch. Corona hat uns auch gezeigt, dass Online-Unterricht, den einige Beobachter sich möglicherweise als Vorstufe für eine automatisierte Schule erträumen, bei Kindern und Jugendlichen zum größten Teil scheitert. Kurz, es wird in vielen Sektoren Produktivitätsfortschritte geben und dort tatsächlich den Arbeitskräftemangel reduzieren; der Erfindungsgeist der Menschen wird durch die Notlage mit Sicherheit auch angetrieben werden und zu unerwarteten Resultaten führen. Aber fest damit zu rechnen, dass diese Produktivitätsfortschritte ausreichen könnten, um genügend Arbeitskräfte für Pflegeberufe und andere nicht durch Technologie ersetzbare Jobs freizusetzen, ist nicht mehr als eine vage und vermutlich unberechtigte Hoffnung.

Inflation und Zinsen steigen

Es gibt keine Gesetzmäßigkeit, die die Prognose erlauben würde, dass die Menschheit diese Entwicklung ohne materielle Wohlfahrtseinbußen meistern könnte. Das Pro-Kopf-Einkommen wird in den nächsten Jahrzehnten vermutlich deutlich langsamer wachsen als es bislang der Fall war. Die Ungleichheitsdebatte dürfte sich verschärfen, worauf die Politik reagieren muss. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass die Inflation, die in den vergangenen 40 Jahren in den Industrieländern im Durchschnitt bei etwa 2 % lag, dauerhaft höher ausfallen wird. Das liegt daran, dass der schon jetzt zu beobachtende und sich vermutlich verschärfende Arbeitskräftemangel die Verhandlungsposition von Arbeitnehmern bzw. von Gewerkschaften stärkt, die daher entsprechend höhere Lohnsteigerungen durchsetzen können. Auch für die Zinsen hat das beschriebene Bevölkerungswachstum langfristige Konsequenzen. Sie dürften von zwei gegenläufigen Faktoren beeinflusst werden, einem sinkenden Realzinsniveau (Nominalzins abzüglich Inflation), das mit dem rückläufigen Produktivitätswachstum zu tun hat, sowie der höheren Inflation, die zu einem höheren Zinsaufschlag auf das reale Zinsniveau führen würde. Wir gehen davon aus, dass der letztere Faktor dominieren wird und wir daher mit höheren Nominalzinsen rechnen müssen.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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