Der Wochenkommentar

Arbeitskräftemangel - eine Chance für Deutschland

Januar 2024

Alle beklagen sich über den Mangel an Arbeitskräften. Viele Unternehmen haben auf dieses Problem reagiert und das birgt gesellschaftliche Chancen.

Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Legen Sie sich dieser Tage nicht mit Handwerkern an - aber auch nicht mit Ärzten, Pflegern, Gärtnern und anderen Menschen, auf deren Dienstleistungen Sie direkt angewiesen sind. Sie ziehen den Kürzeren. Auch in schwierigen Situationen sollten Sie besser freundlich bleiben, ggf. ein großzügiges Trinkgeld geben, statt herumzuknausern. Es gilt nicht mehr unbedingt „Der Kunde ist König“. Vielmehr wollen viele Menschen für ihre Bereitschaft zu arbeiten hofiert werden. Das ist ungewohnt und gibt Anlass zur Kritik („unverschämt, dafür wäre ich damals gefeuert worden“), birgt gesellschaftlich jedoch auch Chancen.

Die Boomer sind schuld, natürlich

Die Ursachen für den Arbeitskräftemangel sind vielfältig, der wichtigste Grund ist die Tatsache, dass die Babyboomer zunehmend in Rente gehen, während weitaus weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten. Dieser demografische Effekt wird sich in den nächsten Jahren noch erheblich verschärfen. 2035 werden 28 % aller Menschen älter als 64 sein, heute sind es mit 22 % deutlich weniger. Gleichzeitig sinkt der Anteil der 20- bis 64-jährigen von derzeit 59 % auf 53 %.

Angesichts der ohnehin angespannten Lage am Arbeitsmarkt machen sich Krankheitswellen, wie sie in den letzten Wochen Deutschland erfasst hat, besonders deutlich bemerkbar. Einige Kitas müssen temporär schließen und das gleiche gilt für viele Kleinunternehmen. Im vergangenen Jahr hat der ungewöhnlich hohe Krankenstand gemäß unterschiedlichen Studien bis zu 0,8 Prozentpunkte Wachstum gekostet.

Die Verhandlungsmacht junger Menschen verbessert sich

Insbesondere junge Menschen spüren aber auch, dass etwas dabei ist sich zu verschieben. Früher waren diese Personen am Arbeitsmarkt tendenziell gegenüber denjenigen, die bereits in Lohn und Brot waren, benachteiligt. Die „Insider“ (die bereits einen Job hatten) hatten wenig Interesse daran, sich von den „Outsidern“ die Preise kaputt machen zu lassen. Jung bedeutete außerdem unerfahren und unreif. Mittlerweile hat sich das Bild deutlich geändert. Bewerbungsprozesse werden vereinfacht, für manche Jobs wird explizit vom Arbeitgeber darauf verzichtet, einen Lebenslauf oder ein Anschreiben einzufordern, man kann sich in einigen Unternehmen sogar per Sprachnachricht bewerben.

Auch andere traditionell benachteiligte Gruppen dürften von dieser Entwicklung zunehmend profitieren. Bei Ausländern liegt die Arbeitslosenrate derzeit bei 15,1 %. Tendenziell war diese in den vergangenen Jahren deutlich gefallen, auch wenn sie durch den Zuzug von ukrainischen Flüchtlingen im Frühjahr 2022 sprunghaft gestiegen ist. In jedem Fall ist festzustellen, dass die Arbeitgeber umdenken. In vielen Unternehmen hat die Internationalität deutlich zugenommen, und in zahlreichen Jobs sind Sprachkenntnisse nicht mehr die Conditio sine qua non. Vielmehr stellen Gaststättenbetreiber nunmehr auch Menschen ohne große Deutschkenntnisse ein, ebenso wie manche Krankengymnastikpraxis Personal aus Spanien oder anderen Ländern anwirbt – auch wenn diese zunächst kaum Deutsch sprechen.

Arbeitnehmer fordern mehr Geld

Mittlerweile schlägt sich die größere Wertschätzung für Arbeitskräfte verstärkt in Tarifverträgen nieder. Die Lohnzuwächse der vergangenen 24 Monate fallen im historischen Vergleich überdurchschnittlich aus. Zuletzt wurden gemäß EZB in der Eurozone Lohnanstiege von durchschnittlich 6 % (inklusive Einmalzahlungen) ausgehandelt. Arbeitgeber sind bereit, auf die hohen Lohnforderungen einzugehen, weil sie ansonsten geringere Chancen haben, die Arbeitnehmer zu halten.

Beschäftigt sein bedeutet nicht nur gesellschaftliche Teilhabe, sondern auch der Aufbau von Humankapital oder weniger technisch ausgedrückt: Menschen, die einen Job haben, bleiben in ihrem Bereich am Ball und langfristig orientierte Unternehmen werden durch gezielte Fortbildungen ihre Arbeitnehmer fördern. Das dämpft den Verlust an Produktivitätswachstum, der üblicherweise bei Arbeitskräftemangel gesamtwirtschaftlich zu beobachten ist.

Ausbilden, ausbilden, ausbilden

Weiter wächst der gesellschaftliche Druck, endlich das Versprechen einer flächendeckenden Betreuungsgarantie für Kinder ab drei Jahren einzulösen, die schulische Ausbildung massiv zu verbessern (Pisa lässt grüßen), Zuwanderungsbedingungen zu optimieren, aber auch die zeitraubenden Verwaltungsaufgaben – etwa für Ärzte und Pfleger – drastisch zu reduzieren. Bei Unternehmen wächst zudem die Überzeugung, dass sie ihr Geschäft nur dann fortführen können, wenn sie drei Dinge tun: ausbilden, ausbilden und ausbilden. Gleichzeitig dürfte der Personalmangel auch ein Katalysator für Automatisierung, Digitalisierung und den gezielten Einsatz von Künstlicher Intelligenz sein - eine Chance für viele neue Unternehmen.

Panik ist nicht hilfreich

Mit den Schlagworten Deindustrialisierung und Verlust an Wettbewerbsfähigkeit Panik zu schüren, dafür ist es verfrüht. Vom Grundsatz her leiden die anderen Industrieländer unter ähnlichen Bedingungen. Das verschafft uns nicht viel, aber ein wenig Zeit. Deswegen sollten die Entwicklungen als Chance begriffen werden. Und die Zeit scheint reif für den notwendigen Wandel zu sein, zu offensichtlich sind die strukturellen Probleme. Das Ergebnis könnte Vollbeschäftigung sein, ein besserer Ausbildungsstand, Internet auch in abgelegenen Regionen, stärkere Integration von benachteiligten Gruppen und ein echter Bürokratieaufbau. Kurz, wir würden zu einem Land, das in Sachen gesellschaftlicher Stabilität und seines technischen Knowhows wieder ganz vorne mitschwimmt.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt

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