Der Wochenkommentar

Deutschland: Strukturell schwach aufgestellt

Oktober 2023 Der Sachverständigenrat stellt Deutschland ein maues Zeugnis aus. Es geht um Versäumnisse in der Vergangenheit, die sich bereits jetzt rächen und auch die Zukunft belasten können. Aber: Man kann etwas dagegen tun.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Einmal im Jahr veröffentlicht der Sachverständigenrat für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung – liebe Leser:innen, bleiben Sie bei mir, es wird aufregender als der Name suggeriert – seine Einschätzung für die deutsche Wirtschaft. Normalerweise stürzen sich die Beobachter auf die Wachstumsprognose für das kommende Jahr (2024: 0,7 %). Dieses Mal sollte man sich aber vor allem anschauen, wie der Rat die langfristige Entwicklung Deutschlands beurteilt bzw. das Wachstum des Produktionspotenzials. In verkürzter Form untersucht der Rat die Frage, ob Deutschland der „kranke Mann Europas“ ist, wobei auch Vergleiche mit den USA und Japan angestellt werden. Das Ergebnis ist nicht sonderlich ermutigend. Oder vielleicht doch. Denn die Aussage der Wirtschaftsweisen ist auch, dass der Rückgang des Wachstums des Produktionspotenzials keine schicksalshafte Entwicklung ist, sondern dass die Wirtschaftspolitik dagegen steuern kann.

Zunächst die Fakten. Das Wachstum des Produktionspotenzials - das ist das Produktionsvolumen, dass Deutschland produzieren kann, wenn Kapitalstock und Arbeitskräfte normal ausgelastet sind – liegt nur noch bei 0,5 %. In den 1970er Jahren lag es noch bei 2,5 %, zwischen 2000 und 2019 betrug es 1,4 %, um dann in den Folgejahren bis 2022 abzustürzen.

In den vergangenen Jahren zeigten die Menschen im arbeitsfähigen Alter – ausgelöst, aber nicht verursacht durch Covid-19 – eine geringere Bereitschaft zu arbeiten. Das war der Hauptgrund für den plötzlichen Rückgang des Wachstums des Produktionspotenzials, das sich neben dem Arbeitsvolumen auch aus dem Ausbildungsgrads der Beschäftigten, dem Kapitalstock und dem technischen Fortschritt zusammensetzt.

Sorge bereitet den Wirtschaftswissenschaftlern aber besonders die über einen längeren Zeitraum zu beobachtende rückläufige Bedeutung des technischen Fortschritts für das Produktionspotenzial. Das ist ein Hinweis darauf, dass im Bereich der Forschung, der Ausbildung und der Finanzierung von innovativen Unternehmen grundsätzlich etwas in die falsche Richtung läuft. Die Tatsache, dass auch der Kapitalstock – dazu zählen nicht nur die Maschinenparks der Unternehmen, sondern auch die Infrastruktur im Bereich Verkehr und Gebäude – kaum noch wächst, ist insofern wenig überraschend. Abgesehen von den täglichen Erfahrungen mit Stau und Verspätungen bei der Bahn ist es nämlich auch so, dass die Entwicklung des Kapitalstocks empirisch eng zusammenhängt mit der Entwicklung des technischen Fortschritts. Wenn beispielsweise mein Computer seit zehn Jahren nicht ausgetauscht wird, werde ich darauf auch keine Software programmieren können, die einen nennenswerten Fortschritt mit sich bringt.

Nun ist es nicht so, dass Deutschland alleine von einem sinkenden Wachstum des Produktionspotenzials betroffen wäre. Gerade der demografisch bedingte Rückgang des Arbeitskräftevolumens ist ein globales Phänomen. Man muss aber leider feststellen, dass Deutschland mit einer Potenzialwachstumsrate von 0,5 % deutlich hinter den USA zurückfällt (rund 1,5 %). Auch die europäische Peers Frankreich (rund 1,3 %), Großbritannien (rund 0,8 %) und selbst das jahrelange Schlusslicht Italien (rund 0,8 %) stehen besser da. Nur Japan (rund 0 %) bleibt wie erwartet ganz hinten, aber das kann sicherlich kein Trost sein.

Nun mag man sagen: Na und, dann sinkt das Potenzialwachstum eben. Solange die Menschen in Lohn und Brot sind, und das sind sie überwiegend, kann man damit doch leben. Ganz so einfach ist es leider nicht. Der internationale Wettbewerb bedeutet, dass eine geringere Produktivität bestraft wird. Unternehmen wandern dorthin ab, wo sie bessere Produktionsbedingungen vorfinden. Die vom Sachverständigenrat aufbereiteten Statistiken sind im Prinzip in Zahlen gegossene Hinweise auf die Standortschwäche Deutschlands. Der Kuchen „Weltwirtschaft“ kann ganz neu verteilt werden und Deutschland wird sich nicht ewig auf seinen diversifizierten Mittelstand mit über tausend Weltmarktführern ausruhen können. Vielmehr muss angesichts des Klimawandels und der geopolitischen Herausforderungen laufend an der Standortattraktivität gearbeitet werden. Unterbleibt dies, kann die Situation rasch kippen und auf einmal genügt auch die Demografie nicht mehr, um die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten, weil Firmen schlichtweg nicht mehr in Deutschland produzieren wollen, sondern sich andere Standorte suchen. Dann werden auch Lösungen zur Bekämpfung des Klimawandels und eine Strategie des Deriskings gegenüber autoritären Staaten schwieriger umzusetzen sein.

Was kann, was muss also getan werden? Investitionen im weitesten Sinne, sowohl vom privaten Sektor als auch vom öffentlichen Sektor sind ein wichtiger Schlüssel. Außerdem muss man bei der Arbeitskräfteknappheit gegensteuern.

Der Sachverständigenrat macht zu diesen beiden Feldern konkrete Vorschläge. Diese erstrecken sich von einer Forschungszulage für kleine und mittlere Unternehmen (teilweise bereits umgesetzt) über die Verbesserung der Qualität der Schul- und Universitätsbildung, die Stärkung von Start-ups über einen Zukunftsfonds (auch hier gibt es bereits Ansätze) bis zu einer gezielten Förderung von Künstlicher Intelligenz, die als eine Art General Purpose Technologie identifiziert wird. Also eine Technologie, die ähnlich wie die Nutzbarmachung von Strom in praktisch allen Sektoren eingesetzt werden kann.

In Bezug auf den Arbeitsmarkt sind die Autoren des SVR-Gutachtens der Meinung, dass bei der Grundsicherung, dem Ehegattensplitting, der Familienversicherung sowie der Witwen- bzw. Witwerrente Reformbedarf besteht. Es werden hier Möglichkeiten identifiziert, die Anreize zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen. Als weiterer wichtiger Punkt zur Dämpfung des weiteren Rückgangs der Zahl der Arbeitskräfte wird die Zuwanderung genannt. Flüchtlingen soll möglichst bald nach ihrer Ankunft in Deutschland eine Arbeitserlaubnis gegeben werden und die Erwerbsmigration aus Nicht-EU-Ländern erleichtert werden. Letzteres soll in den Konsulaten und Ausländerbehörden durch eine Willkommenskultur und weniger administrative Hindernisse unterstützt werden.

Nicht alle, aber die meisten dieser Vorschläge kosten Geld. Das gilt vor allem für Investitionsanreize und für Maßnahmen zur Verbesserung des Bildungssystems. Häufig werden entsprechende Maßnahmen abgelehnt mit dem Hinweis, dafür sei kein Geld da. Wir wissen mittlerweile, dass dies ein fadenscheiniges Argument ist. Angesichts einer niedrigen Verschuldungsquote von 66 % des BIP ist es selbstverständlich keine Frage des Geldes, ob die vom Sachverständigenrat vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt werden, sondern eine Frage des politischen Willens. Klar, wir haben die Schuldenbremse, die auch noch in der Verfassung verankert ist. Eine Reform derselben, in dem man beispielsweise Investitionen aus der Schuldenbremse ausklammert, wäre dringend notwendig, aber derzeit unrealistisch. Ein pragmatischer Umgang mit der Schuldenbremse, wie er bei der Bildung des sogenannten Sondervermögens Bundeswehr an den Tag gelegt wurde, ist kurzfristig aber offensichtlich auch ein Weg.

Es wäre gut, wenn in dieser Hinsicht die Scheuklappen abgelegt würden und Deutschland sich wieder daran macht, sein Potenzial zu heben.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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