Der Wochenkommentar

Die EZB gibt sich einen neuen Rahmen

März 2024

Die EZB macht wieder Schlagzeilen, aber dieses Mal nicht mit kurzfristigen Weltwirtschaft. Zinsentscheidungen, sondern mit neuen strategischen Leitplanken für die nächsten Jahre. Das wurde aber auch Zeit.

Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Haben Sie auch mal wieder Lust auf so eine richtig trockene langweilige Materie? Mit dem Namen „neues operationelles Rahmenwerk“ katapultiert die Europäische Zentralbank (EZB) die Langweiligkeitserwartungen in ganz neue Höhen. Aber Achtung, dieses operationelle Rahmenwerk, das wesentliche Leitplanken für die Geldpolitik der nächsten Jahre festlegt, ist für Sie vielleicht doch relevanter als Sie denken. Das gilt besonders, wenn Sie eines oder mehrere der folgenden Kriterien erfüllen:

- Sie arbeiten in einer Bank (die Regelungen haben Einfluss auf die Ertragsmöglichkeiten Ihres Instituts)

- Sie legen Ihr Geld kurzfristig an (bei den Leitzinsen ändert sich was Grundsätzliches)

- Sie sind Unternehmer:in und Kreditnehmer:in bei einer Bank (die Refinanzierungskosten der Bank sind betroffen und damit auch Ihre)

- Sie sind Volkswirt:in (die interessieren sich immer für so komische Sachen)

- Sie lesen grundsätzlich jeden Wochenkommentar der Hamburg Commercial Bank (immer wieder begegnen mir diese tollen Menschen)

Letzte Woche hat die EZB ihr lang vorbereitetes operationelles Rahmenwerk vorgestellt. 25 Jahre war dieses mehr oder weniger unverändert geblieben, während die Notenbank seit der Finanzmarktkrise (2008) zahllose neue Instrumente aus dem Hut zauberte, um diese und die nachfolgenden Turbulenzen in den Griff zu bekommen. Viele dieser Instrumente wurden jetzt formalisiert. Wir versuchen einige Fragen rund um das neue Rahmenwerk zu beantworten.

Hat das neue Rahmenwerk Einfluss auf die Refinanzierungskosten der Banken und damit auf die Kreditkosten?

Ja. Viele Banken refinanzieren sich kurzfristig zu einem wichtigen Teil weiterhin über die EZB. Dafür muss der sogenannten Hauptrefinanzierungssatz gezahlt werden, der derzeit bei 4,50 % liegt. Gleichzeitig können Banken jedoch auch, wenn sie mehr Zentralbankgeld halten, als sie eigentlich benötigen, dieses bei der EZB zum Einlagenzinssatz von 4,00 % anlegen. Ab Mitte September wird, so die Ankündigung der EZB, der Abstand zwischen Hauptrefinanzierungssatz und Einlagenzinssatz auf 0,15 Prozentpunkte reduziert. Ginge man also von einem unveränderten Einlagenzinssatz aus, dann würde der Hauptrefinanzierungssatz auf 4,15 % sinken, damit auch die Refinanzierungskosten. In Wirklichkeit dürfte der Satz bis dahin noch niedriger liegen, weil die EZB bereits angedeutet hat, im Juni erstmals seit 2019 den Leitzins zu senken.

Warum hat man beschlossen den Abstand zwischen dem Hauptrefinanzierungssatz und dem Einlagenzinssatz von 0,5 Pp auf 0,15 Pp zu senken?

Offensichtlich möchte man auf lange Sicht die Volatilität am Geldmarkt reduzieren, dass also die Geldmarktsätze nur noch in dieser engen Bandbreite handeln. Allerdings gehen wir davon aus, dass, solange sich eine derart hohe Überschussliquidität im Markt befindet – sie liegt aktuell bei 3.500 Mrd. Euro –, das obere Ende der Bandbreite bei Interbankgeschäften nur selten erreicht wird. Der Korridor dürfte erst dann relevant werden, wenn die Überschussliquidität deutlich reduziert wurde und der Interbankenhandel wieder stärker belebt wird. Die Reduktion der Überschussliquidität geschieht über den Abbau der Anleiheportfolien und die Rückzahlung der Langfristfinanzierungsgeschäfte TLTRO. Vermutlich kann man erst 2026 von einer gewissen Normalisierung der Liquidität sprechen, in der dieser neue Korridor einen Sinn macht.

Warum hat die EZB beschlossen, den Einlagenzinssatz zum neuen Leitzins mit Ankerfunktion für die anderen Zinssätze zu definieren?

Vor 2008 sorgte die EZB stets dafür, dass es am Geldmarkt einen strukturellen Mangel an Liquidität gab. Die Idee dahinter: Nur wenn etwas knapp ist, gibt es auch einen Preis dafür. Die Banken waren durch diesen Ansatz gezwungen, sich Woche für Woche an den Refinanzierungsgeschäften der EZB zu beteiligen. Auf diese Weise gelang es der EZB den Hauptrefinanzierungssatz als Leitzins für den Geldmarkt zu etablieren bzw. die Zinsen am Geldmarkt zu steuern. Mit der Finanzmarktkrise von 2008 wurden zahlreiche Instrumente eingeführt (Vollzuteilung bei Refinanzierungsgeschäften, Langfristfinanzierungen und vor allem massive Anleiheankäufe), die zu einer Überschussliquidität führten. Die EZB schätzt die Überschussliquidität derzeit (13.03.2024) auf 3.500 Mrd. Euro. In einem Markt, in dem Liquidität nicht knapp, sondern im Überfluss vorhanden ist, lässt sich über den Hauptrefinanzierungszinssatz der Geldmarkt nicht mehr steuern, der Preis für Liquidität ist in einem derartigen Markt nie nachhaltig über Null. Um den Preis für Liquidität zu steuern, ist die EZB daher umgeschwenkt auf den Einlagenzinssatz. Dieser wirkt so wie ein Garantiepreis für einen Landwirt, der mehr Getreide produziert als der Markt aufnehmen kann.

Die EZB hat sich nunmehr entschlossen, dieses Prinzip beizubehalten und nicht in die alte Welt knapper Liquidität zurückzukehren. Das bedeutet letztlich, dass die Bilanz der EZB deutlich größer bleiben wird als vor 2008, nicht nur nominal, sondern auch nach Anpassung an die Inflation.

Die EZB hat angekündigt, langfristig Anleihen zu kaufen. Das muss doch inflationär wirken, oder?

Die EZB hat seit 2015 massiv Staatsanleihen gekauft. Das Spiegelbild dieser Staatsanleiheankäufe ist zusätzliche Liquidität, die in die Märkte gelangt ist. Seit Anfang 2023 reduziert die EZB ihr Anleiheportfolio und in diesem Zuge ist auch die Liquidität an den Märkten zurückgegangen. Die Gesamtliquidität wird allerdings noch von anderen Faktoren beeinflusst. Dazu gehören die langfristigen Refinanzierungsgeschäfte (TLTRO), die mittlerweile zu einem großen Teil zurückgezahlt wurden. Schließlich beschaffen sich die Banken – das ist der traditionelle Kanal, der aber in den letzten Jahren kaum noch eine Rolle spielt – Liquidität über Hauptrefinanzierungsgeschäfte. Nun sind zwei Sachen festzustellen: Erstens, obwohl in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten eine Überschussliquidität geschaffen wurde, hat diese jahrelang nicht zu Inflation geführt. Die Tatsache, dass die Inflation in 2022 so stark gestiegen ist, kann keineswegs kausal auf die Überschussliquidität zurückgeführt werden. Zweitens, es gehört zu den Aufgaben einer Zentralbank, Liquidität zu schaffen. Über welchen Kanal, also über kurzfristige oder langfristige Refinanzierungsgeschäfte oder über Assetkäufe, ist im Prinzip nicht entscheidend. Die Ankündigung, in Zukunft Anleihen zu kaufen und ein „strukturelles Anleiheportfolio“ aufzubauen bedeutet lediglich, dass Hauptrefinanzierungsgeschäfte in Zukunft eine relativ geringere Rolle bei der Steuerung der Liquidität spielen werden. Man lehnt sich in dieser Hinsicht etwas an die USA an, wo die Fed schon immer ein strukturelles Anleiheportfolio gemanagt hat.

Wann wird das neue Rahmenwerk denn wirksam?

Grundsätzlich gilt das Rahmenwerk ab sofort. So ist der Einlagenzinssatz, der praktisch bereits als Leitzins fungierte, nunmehr auch offiziell der Leitzins, an dem die anderen Zinssätze verankert sind. Viele der im Rahmenwerk beschriebenen Maßnahmen gewinnen aber erst im Laufe der Zeit Relevanz. Die Absenkung der Differenz zwischen dem Hauptrefinanzierungssatz und dem Einlagenzinssatz auf 0,15 Pp gilt explizit erst am dem 18. September. Der Aufbau eines strukturellen Portfolios wird erst erfolgen, wenn die bestehenden Portfolien APP und PEPP ausreichend reduziert wurden, hier gibt es keinen konkreten Kalender. Das gleiche gilt für die neuen LTRO-Geschäfte.

Sind andere Instrumente wie das APP-Anleiheankaufprogramm oder das Transmission Protection Instrument (hiermit können Anleihen eines bestimmten Landes, das Refinanzierungsprobleme hat, gekauft werden) in Zukunft ausgeschlossen?

Nein. Die EZB hat nirgends angedeutet, dass sie auf diese Instrumente oder auch neue Instrumente, die in Reaktion auf neue Krisen vielleicht notwendig werden könnten, verzichten wird. Das wäre auch unklug. Sie hat mit dem neuen Rahmenwerk lediglich festgelegt, welche Instrumente standardmäßig eingesetzt werden.

Fazit

Die EZB gewinnt mit dem neuen institutionellen Rahmenwerk an Glaubwürdigkeit. Die meiste Beobachter hatte Verständnis dafür, dass die zahlreichen Krisen seit 2008 viel Kreativität und neue Tools erforderlich machten. Glaubwürdige Institutionen müssen dann aber irgendwann dem Ganzen einen Rahmen geben. Das ist jetzt geschehen. Mit diesem Rahmenwerk dürfte die Politik der EZB als weniger erratisch wahrgenommen werden. Man kann auch sagen: Die Institution wird langweiliger, aber nicht weniger relevant für Sie.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt

Zum Kontaktformular