Der Wochenkommentar

Die Wohlstandsfrage

Mai 2022 Sanktionen sind teuer und kosten Wohlstand, man solle daher auf Embargos verzichten. So oder so ähnlich äußern sich einige Gegner von Energiesanktionen gegen Russland. Tatsächlich kann Deutschland seinen Wohlstand auf lange Sicht durch die hier diskutierten Sanktionen sogar mehren.

Dr. Cyrus de la Rubia

Für Ökonomen, die in den traditionellen Handelsmodellen von David Ricardo und Heckscher-Ohlin denken, ist die Angelegenheit relativ einfach: Wenn Güter, die ein Land bisher importiert hat, im Vergleich zu den Exportgütern dieses Landes teurer werden, sinkt die Wohlfahrt eines Landes. Der höhere Preis für Erdöl, Erdgas und Kohle – Energierohstoffe, bei denen Deutschland und die EU Nettoimporteure sind – kostet uns also materiellen Wohlstand. Wenn entsprechende Importe sogar ersatzlos wegfallen – die große Befürchtung in Bezug auf ein Erdgasembargo –, ist der Wohlfahrtsverlust sogar noch höher. Einige Beobachter leiten aus dieser Sichtweise ab, Sanktionen auf Energieimporte aus Russland sollten vermieden werden, da sie Wohlstand kosten.

Statische Betrachtung führt in die Irre

Diese Betrachtungsweise ist jedoch zu statisch bzw. kurzfristig. Selbst wenn man nicht-materielle Aspekte des Wohlfahrtsbegriffes wie etwa die Sicherheit des eigenen Landes und anderer Länder ausblendet – was man nicht machen sollte – und sich nur auf den materiellen Wohlstand konzentriert, ist die Aussage falsch.

Das liegt daran, dass die Welt eben nicht statisch ist. Marktwirtschaftliche Kräfte führen dazu, dass sich Knappheiten in Preissignalen niederschlagen. Das führt zu neuen Gewinnmöglichkeiten und löst Reaktionen bei Unternehmer:innen aus, die sich an die neue Situation anpassen. Im Ergebnis kann es zu Innovationen kommen, Industrien können an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen, neue Arbeitsplätze werden geschaffen und das kann letztlich den Wohlstand sogar mehren. Das geht häufig nicht von heute auf morgen, aber zu unterstellen, die Anpassung könne gar nicht gelingen, deckt sich nicht mit den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte. So gab es seit den 1970er Jahren immer wieder Zeiten, bei denen der Ölpreis im Jahresdurchschnitt bis zu 50 % gestiegen ist. Die meisten Unternehmen schafften es, mit diesen Preissteigerungen umzugehen, statt unter der Last der hohen Energierechnungen zusammenzubrechen.

Ein anderes Beispiel ist die massive Aufwertung der Währung in Deutschland, die zwischen den 1970er Jahren und den 2000er Jahren in einigen Phasen bis zu 30 % jährlich betrug. Die damaligen Kassandrarufe von Arbeitgebern, Gewerkschaften und anderen Interessensgruppen, dass dies zu einer Deindustrialisierung führen müsse, waren zwar laut, die Befürchtungen bewahrheiteten sich jedoch nicht. Denn sowohl die Unternehmen, als auch der Staat – ja, auch dieser handelt häufig im marktwirtschaftlichen Sinne und als Förderer der Wettbewerbsfähigkeit – reagierten auf den Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportprodukte durch Innovationen, Effizienzsteigerungen und mit Reformen.

Anpassungsfähige Wirtschaft

Und diese Anpassungen sind auch jetzt zu erwarten und teilweise schon zu beobachten, angesichts eines schwierigeren und in jedem Fall teureren Zugangs zu Energierohstoffen. Energieintensiv produzierende Unternehmen bilden Krisenstäbe, um Konzepte zum Einsparen von Strom und den Zugang zu alternativen Stromquellen zu organisieren. Der Einsatz von erneuerbarer Energie, die in der Vergangenheit häufig als zu teuer und unzuverlässig gebrandmarkt wurde, ist plötzlich eine diskussionswürdige Möglichkeit, während jahrzehntelang als alternativlos bezeichnete Produktionsprozesse neu gedacht werden. Diese Entwicklungen im Privatsektor geschehen vielfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Staatliche Reaktionen sind hingegen bereits zu besichtigen. Die Genehmigungsverfahren für den Bau eines Terminals zur Regasifizierung von Flüssiggas (LNG) sind derart verschlankt worden, dass Anfang Mai 2022 bereits der erste Stahlpfahl in den Meeresboden in Wilhelmshaven gerammt werden konnte, um dort schon zum Ende des Jahres einen schwimmenden LNG-Terminal andocken zu können. Für Deutschland ist das Lichtgeschwindigkeit. Im sogenannten Frühjahrspaket hat das Bundeswirtschaftsministerium erste Voraussetzungen für den beschleunigten Ausbau von Windkraftanlagen und die stärkere Nutzung von Solarenergie geschaffen. Ein Sommerpaket soll weitere Verbesserungen bringen. Kurz: Wenn sich Rahmenbedingungen ändern, passen sich Unternehmen und Staaten an. Gelingt dies gut und schnell, kann die entsprechende Volkswirtschaft sogar besser dastehen als vorher.

Energiepolitik ist Sicherheitspolitik

Trivial ist das Ganze nicht. Insbesondere werden Sie möglicherweise einwenden, dass Unternehmen in den USA einen großen kaum einholbaren Vorteil eines rohstoffreichen Landes bzw. einen wesentlich günstigeren Zugang zu Energie haben. Auch hier gilt: Kurzfristig ist das richtig und das kann Unternehmen in Deutschland und der restlichen EU Marktanteile kosten. Mittel- bis langfristig betrachtet ist jedoch das Bestreben, sich unabhängig von russischen Energielieferungen zu machen, ein Katalysator für die Energiewende, die global in jedem Fall eingeleitet werden muss, auch in den USA. So gesehen können wir uns sogar einen Vorsprung gegenüber den Vereinigten Staaten erarbeiten.

Schließlich muss berücksichtigt werden, dass Energiepolitik auch Sicherheitspolitik ist. Der Fehler der deutschen Energiepolitik der vergangenen Jahrzehnte bestand darin, den Großteil der Energie aus Russland zu beziehen und gleichzeitig keine alternativen Lieferwege aufzubauen, auf die man gegebenenfalls kurzfristig hätte umschwenken können. So ist Deutschland beispielsweise das einzige größere Küstenland in der EU, das nicht über einen LNG-Terminal verfügt. Dass jetzt ein Weg hin zu einer geopolitisch resilienteren Energiepolitik gegangen wird, bedeutet langfristig ebenfalls eine größere materielle Sicherheit. Denn nur so kann vermieden werden, dass das Wohl und Wehe der Wirtschaft und der Bevölkerung von nur einem Staat – in diesem Fall Russland – abhängt.

Argumente gegen Sanktionen greifen zu kurz

Die Wirtschaftswissenschaft hat durchaus theoretische und empirische Literatur hervorgebracht, in der die zeitliche Dimension und die produktive Rolle des Wettbewerbs im internationalen Handel berücksichtigt wird. Die traditionellen statischen Handelsmodelle sind jedoch immer noch sehr präsent und bestimmen häufig den öffentlichen Diskurs. Das ist insofern kritisch, als diese Modelle als Argument gegen Sanktionen in ihrer Einfachheit zu kurz greifen, da sie – abgesehen von moralischen Aspekten – die zeitliche Dimension von Wohlstandsschaffung nicht erfassen.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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