Der Wochenkommentar

EU wird China gegenüber mutiger

November 2023 Der bevorstehende EU-China-Gipfel bietet die Chance, ein Signal europäischer Geschlossenheit zu senden. Die EU strebt ein mutiges strategisches 'De-risking' an, und obwohl es ein gemeinschaftliches Verständnis gibt, fehlt es noch an einer gemeinsamen Umsetzung. China verfolgt aufmerksam die Entwicklungen in Brüssel.

Ein Kommentar von Dr. Tariq Chaudhry

Dr. Cyrus de la Rubia

Die EU war im Umgang mit China lange Zeit allzu optimistisch und zurückhaltend. In den 2010er Jahren zeigten die Europäer sowohl Wohlwollen als auch Uneinigkeit gegenüber China. Die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung wurde vor allem von den Marktchancen geprägt, wobei übersehen wurde, dass China seine heimischen Märkte schützte und bereits 2015 mit „Made in China 2025“ eine umfangreiche Industriestrategie entwickelt hatte. Dieser Plan sah die Stärkung der chinesischen Industrie entlang der gesamten Wertschöpfungskette durch den Aufbau von Forschungs- und Entwicklungszentren, den Ausbau der digitalen Infrastruktur und gezielte Technologieakquisitionen im Ausland vor. Entsprechend dieser Strategie – und aufgrund einer gewissen „Blauäugigkeit“ der Europäer – konnten die Chinesen innerhalb des EU-Marktes ungehindert ihren Plan umsetzen.

Überfall auf die Ukraine änderte alles – auch die Sicht auf China

Die EU hat bereits vor längerer Zeit die strategischen Herausforderungen durch China erkannt, formulierte jedoch erst 2019 in einem Strategiepapier China als „strategischen Rivalen“. Anstatt jedoch eine gemeinsame EU-Position zu vertreten, verhandelten die Mitgliedstaaten individuelle Konditionen mit China aus, wobei größere Länder wie Deutschland und Frankreich explizit eigene Wege gingen, während kleinere osteuropäische Staaten sich dem China-Mittel-Ost-Europa-Gipfel anschlossen – in der Hoffnung auf mehr Investitionen aus und mehr Exporten nach China. Erst der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 sensibilisierte viele EU-Mitglieder hinsichtlich der China-Frage. Die plötzliche (vor allem energiepolitische) Entflechtung von Russland traf besonders Deutschland schwer. Unternehmen mussten sich rasch von Russland distanzieren, und Fragen zur Energiesicherheit neu gedacht werden. In den Hauptstädten der EU-Mitgliedsländern wurde erst jetzt verstärkt überlegt, wie sich ein „de-coupling“ – also ein sich wirtschaftliches Ablösen – von China auswirken könnte, falls China tatsächlich Taiwan überfiele, um eine zwangsweise Vereinigung mit Festlandchina zu erreichen.

Das Problem des Handelsdefizit

Der Ukraine-Krieg führte 2022 in Europa – mit dem Wegfall des Energielieferanten Russland – zu einem drastischen Anstieg der Energiepreise. So stieg z.B. der TTF Gaspreis zeitweise um etwa 400 % auf rund 335 €/MWh. Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie verschlechterte sich erheblich durch die Energiekrise und lässt sich im Nachhinein eher als Brennglas für eine bereits vorher beeinträchtigte Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu China deuten. Dieser Trend spiegelt sich mittlerweile auch in den Handelsdaten wider: China wurde 2022 der zweitgrößte Handelspartner der EU, hinter den USA. Nach Eurostat-Daten beliefen sich die Gesamtimporte und -exporte auf 856,3 Milliarden Euro, was etwa 15,3 % des gesamten Handelsvolumens der EU entspricht. Das Handelsbilanzdefizit der EU gegenüber China verdoppelte sich im Jahr 2022 nahezu auf einen Rekordwert von knapp 400 Milliarden Euro. Besonders bemerkenswert ist im Vorjahresvergleich der kräftige Anstieg der Importe (+32 % auf 626 Mrd. Euro) im Vergleich zu den nahezu unveränderten Exporten (+2,6 % auf 230 Mrd. Euro). Die Analyse der Veränderungen in den Importen nach Produktgruppen zeigt (für die Jahre 2012-2022), dass vor allem drei Gruppen das Handelsbilanzdefizit der EU gegenüber China verschärft haben: „Chemikalien“, „Maschinen und Fahrzeuge“ sowie „Energie“. Mit Ausnahme der Entwicklungen in der Energiegruppe, die wahrscheinlich stärker mit den Umlenkungseffekten des Energiehandels nach der Verhängung von Sanktionen gegen Russland zusammenhängen dürften, lässt sich in den Gruppen „Chemikalien“ und „Maschinen und Fahrzeuge“ durchaus ein gezielter industriepolitischer Einfluss im Rahmen der Strategie "Made in China 2025" seitens Peking feststellen. Dieser Plan wurde mit dem Ziel entworfen, China zu einem führenden Akteur in hochtechnologischen Branchen zu machen, und es scheint den Chinesen vermehrt zu gelingen.

Trauma: Solarindustrie

Angesichts der raschen Ausweitung des Handelsdefizits formierten sich in den EU-Mitgliedsstaaten verstärkt Stimmen gegen das Vorgehen der Chinesen in der Industriepolitik: Ein aktuelles Beispiel ist die von der EU-Kommission eingeleitete Untersuchung, in der dem chinesischen Staat wettbewerbsverzerrende Subventionen für Elektroautos vorgeworfen werden. Die Kommission gibt an, ausreichende Hinweise dafür zu haben, dass europäischen Herstellern durch chinesische Staatshilfen Schaden zugefügt wird. Chinesische Elektroautos seien demnach etwa 20 Prozent günstiger als in der EU hergestellte Fahrzeuge. Eine Antisubventionsuntersuchung könnte zu Strafzöllen gegen China führen. Die Entscheidung darüber wird jedoch nicht allein in Brüssel, sondern auch in den anderen EU-Hauptstädten getroffen. Es ist jedoch fraglich, ob Länder wie Deutschland, dessen Autoindustrie stark mit dem chinesischen Markt verbunden ist, aus Angst vor Vergeltung Strafmaßnahmen gegen China zustimmen werden. Die Abwägung der möglichen Strafmaßnahmen wird angesichts der Erinnerung an den Verlust grüner Schlüsselindustrie an China während der 2010er Jahre für die Europäer nicht einfach sein.

De-risking statt de-coupling

Anfang des Jahres 2023 stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Rede klar, dass die „hawkishere“ Haltung der EU gegenüber China nicht den Eindruck einer beabsichtigten „Entkopplung“ vermitteln solle. Sie erklärte, es sei weder machbar noch im Interesse Europas, sich von China vollständig zu entkoppeln. Stattdessen solle der Fokus auf Risikominimierung („de-risking“) liegen. Innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten entwickelt sich seitdem, abgesehen von Ungarn, ein gemeinsames Verständnis für die Bedeutung von „de-risking“. Dieser Begriff umfasst dabei vier Bereiche der Risikominimierung: Erstens sollen Abhängigkeiten verringert werden, insbesondere in Bezug auf wichtige Rohstoffe, wie seltene Erden und Edelgase für die Produktion grüner Technologien. Zweitens sollen von den EU-Konzernen resilientere Lieferketten angestrebt werden, um bei geopolitischen Turbulenzen Planungssicherheit und Handlungsfähigkeit zu behalten – und eine erneute Situation wie mit Russland nach dem Überfall auf die Ukraine zu vermeiden. Drittens soll der Schutz von kritischer Infrastruktur (wie von Häfen und Kommunikationsnetzwerken) vor dem Zugriff chinesischer Konzerne geschützt werden. Viertens soll die Weitergabe von Technologie von EU-Konzernen unter Berücksichtigung des Schutzes des geistigen Eigentums und der möglichen militärischen Nutzung betrachtet werden. Es ist wichtig, zu betonen, dass ein gemeinsames Verständnis noch keine einheitliche Vorgehensweise in der EU garantiert. Die konkrete Umsetzung bleibt daher abzuwarten.

Fazit

Der schärfere Ton der EU gegenüber China wird in Peking registriert. Untersuchungen der EU-Kommission zu möglichen unfairen Handelspraktiken Chinas werden allerdings von der chinesischen Seite entschieden zurückgewiesen. China ist sich jedoch bewusst, wie fragmentiert Europa ist und wie leicht die EU-Staaten gegeneinander ausspielbar sind. Dieser Umstand wurde deutlich, als der französische Präsident Emmanuel Macron im Frühjahr 2023 alleine Gespräche mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping führte, obwohl er gemeinsam mit der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Peking gereist war. Vor Präsident Macron war bereits Bundeskanzler Olaf Scholz nach Peking gereist, ohne einen Vertreter der EU mitzunehmen. Vom 7. bis 8. Dezember 2023 reisen nun die EU-Kommissionspräsidentin und der EU-Ratspräsident nach Peking. Dies bietet nach über vier Jahren die Gelegenheit für eine eigenständige Präsentation der EU gegenüber der chinesischen Staatsführung. Das EU-Handelsdefizit kann dabei als Hebel für Brüssel fungieren, da China den Handelsbilanzüberschuss, als Ergebnis der hohen Exporte, mit der EU benötigt, um mit den internen wirtschaftlichen Herausforderungen, insbesondere der schwachen Inlandsnachfrage angesichts der Immobilienkrise, fertigzuwerden. Auch wenn keine großen Durchbrüche beim EU-China-Gipfel zu erwarten sind, kann die Gelegenheit von EU-Seite dafür genutzt werden, den chinesischen Partnern zu signalisieren, dass eine neue Ära der Beziehungen im Zeichen von Fairness und Reziprozität stehen sollte. Es ist dabei entscheidend, dass die EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere Deutschland und Frankreich, der EU die notwendige Rückendeckung geben, um den Herausforderungen aus China gemeinsam erfolgreich zu begegnen. Andernfalls wird China der EU eine eigenständige Bedeutung ebenfalls nicht einräumen und sein Spiel des „divide et impera“, also „teile und herrsche“, fortsetzen – zum langfristigen Schaden der Europäer.

Dr. Tariq Chaudhry

Dr. Tariq Chaudhry

Economist

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