Der Wochenkommentar

EZB macht bei grüner Geldpolitik Ernst

Juli 2022 Die Europäische Zentralbank will den Klimaschutz in ihren geldpolitischen Entscheidungen berücksichtigen und hat dafür den bereits 2021 herausgegebenen Klimaaktionsplan konkretisiert. Es ist eine mutige Entscheidung in disruptiven Zeiten. Ein Kommentar von Tariq Chaudhry

Tariq Chaudhry

Extreme Hitze wütet in Europa. Mehr als 1.100 Menschen sind in Süd- und Westeuropa in der Folge gestorben, in Frankreich und Spanien wüten Waldbrände, und die Temperaturrekorde werden übertroffen. Dies ist ein Vorgeschmack auf das, was in den typischerweise kühlen Teilen der Welt, die auf große Hitze oft nicht vorbereitet sind, bevorsteht. Zahlreiche Analysten und Kommentatoren kommen zu dem Schluss, dass viele Medienmacher und Politiker den Ernst der Lage nicht begriffen hätten. Nun kommt ein Vorstoß aus ungewöhnlicher Richtung. Die EZB hat Anfang des Monats ihren Klimaaktionsplan von 2021 konkretisiert und will sich dabei verpflichten, geldpolitischen Operationen mit ihrem Klimaaktionsplan in Einklang zu bringen und den Klimawandel bei den Käufen von Unternehmensanleihen, den Sicherheitenrahmen, den Offenlegungsanforderungen und dem Risikomanagement zu berücksichtigen. „Mit diesen Entscheidungen setzen wir unsere Zusage zur Bekämpfung des Klimawandels in die Tat um“, ist sich EZB-Präsidentin Christine Lagarde gewiss.

Welche relevanten Maßnahmen möchte die EZB ergreifen?

Praktisch relevant werden demnächst vor allem zwei Instrumentarien: Zum einen ist es die Neuausrichtung des Ankaufes von Unternehmensanleihen. Obwohl die EZB im Zuge der akuten Inflationsbekämpfung den Gesamtbestand an Anleihen nicht mehr erhöht, werden weiterhin Anleihen gekauft, da fällig werdende Anleihen mit neuen Anleihen ersetzt werden, um den Anleihebestand konstant zu halten. Derzeit ist der Bestand an Unternehmensanleihen in der Bilanz der EZB bei 380 Mrd. Euro (340 Mrd. Euro im CSPP-Programm und 40 Mrd. Euro im PEPP-Programm). Bei einer durchschnittlichen Laufzeit von zehn Jahren wären das rund 40 Mrd. Euro pro Jahr, die reinvestiert werden müssten. Dabei sollen jene Anleihen bevorzugt gekauft werden, deren Emittenten sich zumindest an den Pariser Klimazielen „orientieren“ wollen. Durch diesen Passus sieht die EZB-Direktorin Isabel Schnabel es als gewährleistet an, dass es nicht zum Komplett-Ausschluss von individuellen Unternehmen kommt. Frau Schnabel sagt hierzu: "Das ist wichtig, weil die weniger nachhaltigen Firmen eben nachhaltiger werden müssen, und wir wollen sie bei dieser Transformation begleiten".

Zum anderen ist es das Instrument der Sicherheiten bei Repogeschäften mit der EZB, die die Banken bei der EZB hinterlegen müssen, um sich bei der EZB über kurz- und langfristige Tendergeschäfte zu finanzieren, dass die EZB zur „Grünifizierung“ ihrer Geldpolitik nutzen möchte. Konkret dürfte es darum gehen, den Abschlag auf die Sicherheiten für grüne Vermögenswerte gegenüber braunen Vermögenswerten zu reduzieren und damit zu bevorzugen. Dazu zählen auch Unternehmensanleihen, wenngleich diese bislang als Sicherheiten keine große Rolle spielen. Die Währungshüter wollen letzlich den Anteil von Schuldtiteln von Unternehmen mit einem hohen CO₂-Fußabdruck begrenzen, die als Sicherheiten gestellt werden können. Die Maßnahme soll aber erst in zwei Jahren in Kraft treten.

Marktneutralität

Diese Maßnahmen stellen das etablierte Verständnis einer Zentralbank grundsätzlich infrage. Denn die historischen Erfahrungen haben zu der Sichtweise geführt, dass eine Zentralbank möglichst unabhängig von kurzfristigen politischen Interessen agieren sollte und sich vorrangig um die Stabilität des Geldes und ihrer Glaubwürdigkeit kümmern sollte. Kritiker wenden in diesem Zusammenhang ein, dass die EZB den Markt verzerren würde und nicht marktneutral wäre, wenn sie „grüne“ Anleihen bevorzugt. Jedoch: Wenn man sich Art. 127 (1) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in dem Zusammenhang anschaut, sieht man, dass Marktneutralität mit keiner Silbe erwähnt wird. Vielmehr wird Marktneutralität aus der gesetzlich verankerten Orientierung der EZB am Grundsatz der freien Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb abgeleitet.

Wenn man aber den Begriff Marktneutralität weiterhin behalten will, ist in dem Zusammenhang ein Gedanke von Direktorin Schnabel interessant. Ihr zufolge wurden bisher Unternehmensanleihen im Rahmen des CSPP und PEPP von jenen Unternehmen akquiriert, deren Anleihe nach EZB-Kriterien geeignet und auf dem Markt in großer Anzahl verfügbar waren. Dieses Vorgehen sei nicht zwangsläufig, es sei in den entsprechenden Verträgen zur EZB nicht festgelegt. Das bisherige Verfahren habe (belegt durch Studien) zu einer Bevorzugung („bias“) von Großunternehmen mit einem hohen Schadstoffausstoß geführt. Ob dieser Zustand in einer Zeit, wo der Klimawandel nicht einfach nur politische Rhetorik, sondern wissenschaftliche Gewissheit ist, zeitgemäß ist, darf stark bezweifelt werden.

Greenwashing

Kritik an dem Vorhaben kommt auch augenscheinlich von unerwarteter Seite. Die Naturschutzorganisation Greenpeace sieht die Gefahr des Anreizes für Greenwashing. Also die Gefahr, dass die Emittenten von Unternehmensanleihen sich grüner darstellen als sie tatsächlich sind. Denn laut Direktorin Schnabel gibt es tatsächlich keine verlässlichen objektiven Nachhaltigkeitsstandards, anhand derer die EZB die Klimafreundlichkeit der Emittenten von Unternehmensanleihen prüfen könnte. Die EZB will die Unternehmen in einem internen Scoring-System gemäß „öffentlich zugänglichen Daten“ nach drei Kriterien bewerten: Ausstoß von Treibhausgasen, Pläne zur Reduktion der Treibhausgase und Transparenz über den eigenen ökologischen Fußabdruck. Das Thema ist in der Tat ernst, denn Meldungen über Greenwashing sind keine Seltenheit mehr, seitdem Unternehmen wissen, dass man sich gegenüber Stakeholdern besserstellen kann, wenn man sich einen grünen Anstrich gibt. Wenn es keine wirksamen Kontrollmechanismen gibt, ist eine Bevorzugung von grünen Assets durch die EZB ein weiterer Anreiz Greenwashing zu betreiben. Es ist jedoch zu erwarten, dass die Kriterien in den nächsten Jahren geschärft werden und die Möglichkeit, den Kontrollen zu entgehen, reduziert werden. Mit der Zeit dürften immer weniger Unternehmen das Risiko eingehen, Informationen vorzutäuschen, denn das Risiko eines umso größeren Reputationsverlustes dürfte erheblich steigen.

Wie effektiv dürfte das Vorhaben sein?

Wenn man alle Programme der EZB, die Unternehmensanleihen akquiriert haben, aggregiert (CSPP + PEPP), dann ergibt das in der Summe 380 Mrd. € (Stand: Juli 2022). Entsprechend der Schätzungen der ICMA Group (basierend auf Bloomberg) wird das Volumen der nach EZB Kriterien für die Ankaufprogramme zulässigen Unternehmensanleihen auf 1250 Mrd. € beziffert. Damit machen die Anleihen im Portfolio der EZB etwa 30 % der zulässigen Unternehmensanleihen aus. Da die Anleihen, die die generellen Aufnahmekriterien erfüllen, zu den liquidesten Anleihen gehören, kann ein verändertes Kaufverhalten der EZB in diesem Marktsegment durchaus eine spürbare Wirkung auf die Preise der Unternehmensanleihen haben. Dies würde sich auch auf den Gesamtmarkt für Euro- denominierte Unternehmensanleihen auswirken, auch wenn das Volumen mit 5,65 Billionen Euro wesentlich größer ist und hier auch Non-Investment-Grade Anleihen eine wichtige Rolle spielen. Gerade im derzeitigen Umfeld steigender Zinsen sollten grüne Unternehmensanleihen und ihr durch die EZB-Maßnahmen bewirkter Finanzierungsvorteil an Bedeutung gewinnen.

Der Markt für grüne Unternehmensanleihen

Laut Climate Bonds Initiative erreichte der weltweite Markt für grüne Anleihen im Jahr 2020 mit einem Emissionsvolumen von rund 237 Mrd. € einen neuen Höchststand. Daten von Bloomberg zeigen, dass einerseits die Anzahl der in Euro begebenen grünen Anleihen und andererseits das jährliche Emissionsvolumen in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet wurde. Die Anzahl der grünen Anleihen ist demnach im Euroraum seit 2013 von 3 auf über 600 angestiegen. Ebenfalls hat sich die Anzahl, der nach EZB-Kriterien zulässigen grünen Anleihen erhöht. Für das Jahr 2016 waren nach Bloomberg lediglich 25 grüne Unternehmensanleihen mit einem Emissionsvolumen von 8 Mrd. € verfügbar. Im Jahr 2020 waren es 149 Titel mit einem Volumen von knapp 32 Mrd. €. Die Tatsache, dass die EZB nun praktisch in ihren Aufkaufprogrammen grüne Unternehmensanleihen zu bevorzugen, wird zwar erwartungsgemäß die Rendite für Investoren in dem Bereich senken, aber verbessert gleichzeitig die Finanzierungsbedingungen der zugrundeliegenden grünen Investitionsprojekte. Die Ursache für dieses dynamische Wachstum liegt darin begründet, dass auf der einen Seite institutionelle Investoren und Privatkunden immer stärker nachhaltig investieren möchten. Auf der anderen Seite ist der Gesetzgeber insbesondere auf der EU-Ebene seit Jahren dabei, die Taxonomie für die Kriterien von ESG-konformen Assets zu konkretisieren. Die EZB dürfte mit ihrem Vorhaben den Trend hin zu mehr grünen Assets verstärken.

Fazit und Ausblick

Die EZB hat an dieser Stelle mit einer weiteren Konkretisierung ihres Klimaaktionsplans bewiesen, dass sie die Ankündigung, sich ernsthaft mit dem Klima auseinandersetzen zu wollen, durchaus ernst meint. Die Kritik um die Definitionen der Begriffe Marktneutralität und Unabhängigkeit werden die EZB weiter begleiten, denn die EU befindet sich inmitten einer Energiekrise, die die Ablehnung fossiler Brennstoffe erschwert. Trotz dieser kurzfristigen Herausforderungen ist es zu begrüßen, dass die EZB den Klimawandel eben nicht ignoriert, sondern ihn zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Politik macht. Diese neue Ausrichtung hin zu grüner Geldpolitik sollte daher nicht als Abwendung von den klassischen Aufgaben einer Zentralbank, sondern eher als Erweiterung des Blicks verstanden werden. Um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird es darüber hinaus essenziell sein, klare Nachhaltigkeitsstandards für grüne Anleihen zu etablieren. Falls Unternehmen, die im EZB-Portfolio sind, in den Verdacht von Greenwashing geraten, darf dies nicht negativ auf die Reputation der EZB zurückfallen. Insgesamt zeigt die EZB-Präsidentin Christine Lagarde Mut, das Thema der grünen Geldpolitik in dem derzeit schwierigen Umfeld voranzutreiben. Die alte Seemannsweisheit kommt einem in den Sinn: Eine gute Kapitänin zeigt sich im Sturm.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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