Der Wochenkommentar

Indien mindestens ein Jahrzehnt hinter China

Juni 2023 Aufgrund der zunehmenden Konfrontation zwischen den USA und China sehen viele Indien als ideales Gegengewicht in einer sich resilienter gestaltenden Globalisierung. Wenn Indien es schafft im kommenden Jahrzehnt eine starke Industrie aufzubauen, Jobs zu produzieren, die Infrastruktur zu optimieren und sich für ausländische Märkte zu öffnen, dann kann das Land sein Potenzial entfalten. Die Probleme sind groß und die Zeit ist knapp.
Ein Kommentar von Tariq Chaudhry

Tariq Chaudhry

Wenn man die jüngsten wirtschaftlichen Erfolge Indiens zu einem Bild zusammenfassen würde, dann würde es vermutlich wie die Fassade eines makellos anmutenden Filmplakats aus der dort ansässigen Film- und Traumfabrik Bollywood wirken. Indien gehört mit einem BIP von 3,53 Billionen USD mittlerweile zu den fünf größten Ökonomien der Welt und hat auf dem Weg dorthin sogar die einstigen Kolonialherren aus Großbritannien hinter sich gelassen. Die Bevölkerung wächst im Vergleich zum Nachbarn China weiterhin robust, was laut Schätzungen der UN dafür sorgen wird, dass im Laufe dieses Jahres Indien etwa 3 Mio. mehr Menschen (1,428 Mrd. Menschen) als China beherbergen wird. In Zeiten verlangsamter globaler Wirtschaftsdynamik soll laut Ansicht der Weltbank Indien zum Wachstumsmotor in den kommenden Jahren avancieren. Für 2023 ist ein Wachstum von 5,9 % und für 2024 ein Wachstum von gar 6,3 % prognostiziert. China hingegen hatte sich zu Beginn des Jahres ein relativ wenig ambitioniertes Wachstumsziel von 5 % gesetzt, aber nach enttäuschenden Zahlen zu Beginn des zweiten Quartals scheint dieses Ziel trotz Aufhebung der Null-Covid-Strategie Ende 2022 in Gefahr. Auch geopolitisch steht Indien momentan hoch im Kurs. In einem zunehmend konfrontativen Umfeld zwischen den Großmächten USA und China wird um die Gunst des Landes offen gebuhlt. Dieses makellos anmutende Plakat ruft danach es von nächster Nähe anzuschauen und die Herausforderungen zu identifizieren, die die Entfaltung des ökonomischen Potenzials zunichtemachen könnten.

Unterentwickelte Industrie

Unüblich für ein Entwicklungsland mit großen Wachstumsambitionen ist der geringe Anteil der Industrie am Wachstum. Über das letzte Jahrzehnt stagnierte dieser Wert um etwa 15 % und ist dann mithilfe von großangelegten Industrieprogrammen, wie „Make in India“ mühevoll und kapitalintensiv auf aktuell knapp 17 % gehievt worden. Hingegen hat die Industrie in China einen Anteil am BIP-Wachstum von 33 %. Die schwache Industrie in Indien ist vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen.

Erstens, eine übermäßige Bürokratie und Korruption; diese nährt sich von einem unüberschaubaren, sich stets ändernden und nur marginal um Kohärenz bemühtes Regelwerk. Das führt dazu, dass der Abschluss eines jeden Amtsgeschäfts letztlich ganz im Ermessensspielraum des Beamten liegt.

Zweitens, eine weiterhin unzureichende Infrastruktur, auch wenn unter der Leitung der aktuellen Regierung das Land große Fortschritte auf dem Gebiet gemacht hat. Eine Studie der Weltbank rechnet vor, dass das Land allein im urbanen Raum Projekte in den kommenden 15 Jahren in einem Investitionsvolumen von 840 Mrd. USD realisieren muss, um einen angemessenen Standard erreichen zu können.

Das indische Wachstum speist sich viel stärker aus der Agrarwirtschaft (15 %) als das Chinesische (8 %). In Indiens ohnehin schon ineffizientem Agrarsektor sind heute 45 % der Arbeitskräfte des Landes beschäftigt. Bauernfamilien leiden unter einer hartnäckig hohen Unterbeschäftigung. Viele Mitglieder teilen sich die begrenzte Arbeit auf Parzellen, die durch die Aufteilung zwischen den Generationen immer kleiner werden.

Besonders stark ist das Wachstum getrieben vom Dienstleistungssektor, der etwa 50 % ausmacht. Der Dienstleistungssektor in Indien ist durch eine breite Palette von Branchen gekennzeichnet, in denen Privatpersonen, Unternehmen und die Regierung verschiedene Dienste anbieten. Angesichts steigender Automatisierung und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz wird man abwarten müssen, wie nachhaltig Dienstleistungen in der Zukunft das Wachstum Indiens antreiben werden.

Fehlende Jobs

Im Zusammenhang mit der hohen Bevölkerungszahl und der, vor allem im Vergleich zu China, sehr jungen Bevölkerung wird Indien häufig eine demographische Dividende zugesprochen. Diese aber einzulösen stellt die Regierung vor große Herausforderungen, darüber darf auch die offizielle Arbeitslosenrate von derzeit 6,8 % nicht hinwegtäuschen. Zum einen ist ein erheblicher Teil der ländlichen Arbeitskräfte in Tätigkeiten mit geringer Produktivität und niedrigem Einkommen beschäftigt. Zum anderen ist die Erwerbsquote von Frauen relativ gering (29 %). Diese ist seit 2005 mit steigendem Einkommen paradoxerweise um 10 Prozentpunkte gesunken. Grund hierfür ist u. a., dass es in konservativen indischen Familien als ein Statussymbol angesehen wird, wenn die Frau in der Familie keiner Erwerbsarbeit nachgeht.

Die Erwerbquote von Frauen in China hingegen liegt bei etwa 60 %. Selbst wenn man die offizielle Statistik trotz ihrer Unzulänglichkeiten zugrunde legt, produziert Indien zu wenige Jobs. Der Chefökonom der HSBC Bank hat ausgerechnet, dass Indien in den kommenden zehn Jahren etwa 70 Millionen Jobs kreieren müsste, um die Menschen beschäftigen zu können, die Jahr für Jahr neu in den Arbeitsmarkt strömen. Seiner Schätzung nach wird die indische Wirtschaft in diesem Zeitraum lediglich 24 Mio. Jobs schaffen. Als Grund hierfür muss man wieder die schwach ausgeprägte Industrie anführen. Sie allein ist aufgrund ihrer Arbeitsintensität und der damit verbundenen Fähigkeit, Einkommensbasis und die Konsumausgaben zu steigern, in der Lage, Indien auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen.

Die fehlende Perspektive auf dem Arbeitsmarkt macht sich immer wieder auch anekdotisch bemerkbar. Als Anfang 2022 die staatliche indische Eisenbahngesellschaft Indian Railways 35.000 Angestellte suchte, bewarben sich über 12,5 Mio. Menschen, sodass man den Bewerbungsprozess aufgrund von Überlastung abbrechen musste. In China wird es aufgrund der schrumpfenden und alternden Bevölkerung schwieriger, das Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, während Indien Schwierigkeiten bekommen könnte die Massen mit Arbeitsplätzen zu versorgen.

Ausgeprägter Protektionismus

Im Vergleich zu China hat Indien seit den 1990er Jahren eine vorsichtigere und schrittweise Öffnung zum Welthandel vollzogen. Während China rasche und umfassende wirtschaftliche Reformen umgesetzt hat, verfolgte Indien eine langsamere Liberalisierungspolitik. Indien hat seine Zölle reduziert, FDI-Beschränkungen gelockert und sich auf den Ausbau des Dienstleistungssektors konzentriert. aber auch die Schwerindustrie massiv gefördert. Allerdings bleiben Herausforderungen in Bereichen wie Landwirtschaft und nichttarifären Handelshemmnissen bestehen. China hingegen hat sich schnell in den globalen Handel integriert und eine exportorientierte Wachstumsstrategie verfolgt. China konnte u. a. so sein BIP-Pro-Kopf auf etwa 12.500 USD steigern und Indien lediglich auf 2.250 USD. Die zurückhaltende Haltung Indiens hinsichtlich der Liberalisierung des Marktes ist geblieben.

Der Unmut ausländischer Konzerne gegenüber China als Produktionsstandort wurde besonders durch die hermetische Abriegelung des Landes während der Corona-Pandemie geschürt. Seitdem wird der Standort China auch wegen der willkürlich implementierten Regulierung in der Tech- & Immobilienbranche und der zunehmend geopolitischen und wirtschaftlichen Rivalität mit den USA infrage gestellt. Jedoch kann Indien bisher im Vergleich zu den relativ kleinen Staaten aus Südostasien kaum von den Verlagerungen von Produktionslinien profitieren. An dieser Stelle wird Indien ein nicht abgeschlossenes Abkommen zum Verhängnis, das sog. „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (RCEP), das China mit 14 asiatischen Staaten Nachbarn abschloss. Delhi befürchtete, dass durch das Abkommen die Zölle auf importierte Waren um 80-90 % gesenkt und das große Handelsungleichgewicht Indiens mit China weiter vergrößert würde, sodass die einheimischen Hersteller einer stärkeren ausländischen Konkurrenz ausgesetzt wären. So ist es nicht verwunderlich, dass die durchschnittlichen Zölle in Indien im Durchschnitt über alle Produkte 6,4 % und in China lediglich 2,5 % (in Deutschland sind es 1,5 %) betragen. Indien bleibt im Vergleich zu China eine relativ abgeschottete Ökonomie, das kann man auch am Handelsvolumen ablesen, das für Indien etwa 1,2 Billionen USD und in China bereits 6,31 Billionen USD beträgt. Für die Weltwirtschaft bedeutet das, dass das relativ hohe Wachstum Indiens sich in einem viel geringeren Ausmaß bei den Exporten der Handelspartner bemerkbar macht, als bei China, wo das Importvolumen deutlich höher ist.

Fazit

Wenn wir in Bezug auf die indische Wirtschaft das Bild des makellos anmutenden Filmplakats bleiben, so muss man resümieren, dass es beim näheren Hinsehen etwas verpixelter/unschärfer als von der Ferne wirkt. Den ökonomischen Wachstumspfad hin zu einem Land mit mittleren Einkommen (etwa 10.000-15.000 USD/Kopf), den Indien gern beschreiten möchte, haben vorangegangene asiatische Erfolgsmodelle wie Japan, Südkorea oder China nicht ohne eine robuste Industrie geschafft, daher wird die Regierung in Delhi die Weichen weiter in diese Richtung stellen müssen, was aber aufgrund der schieren Größe dieses Landes, mit einem ausgeprägten und teils bürokratisch chaotischen Föderalismus eine Mammutaufgabe ist. Dabei ist das Gefälle zwischen urbanen und ländlichen Raum mit seinem starken Fokus auf die Agrarwirtschaft eine weitere Hürde, die mit Reformen und Modernisierung angepackt werden muss.

Wenn tatsächlich diese Reformen gelingen und Anreizsysteme greifen, wird man auch Fortschritte bei der Entstehung von Jobs sehen, mithilfe derer China im Zeitraum 1990 bis 2015 etwa 850 Millionen Menschen aus der Armut herausholte. Diese Art von Prosperität ist noch keinem Land allein durch die Entwicklung des Dienstleistungssektors gelungen. Die geopolitische Lage stellt sich derzeit günstig dar. China wird für viele Industriestaaten zu einem immer schwerer kalkulierbaren Partner. Wenn Indien es in diesem Umfeld schafft, sich zu öffnen, zu entbürokratisieren, industrialisieren und reformieren, dann kann die junge und hungrige Nation nicht nur viel Wohlstand für sich, sondern auch für die Welt erwirtschaften. Um die Wichtigkeit für die Weltwirtschaft zu entwickeln, die China heute hat, wird Indien mindestens ein Jahrzehnt brauchen, wenn alles gut geht. In Worten eines Bollywood-Klassikers ausgedrückt bedeutet das: "In so großen Ländern wie diesen passieren immer wieder kleine Dinge".

Dr. Tariq Chaudhry

Dr. Tariq Chaudhry

Economist

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