Der Wochenkommentar

Ist Deutschland noch zu retten?

August 2023 „The Sick Man of Europe“, so wurde Deutschland jüngst mal wieder bezeichnet. Das ist übertrieben, aber die Menschen hierzulande haben ein feines Gespür dafür, dass in den vergangenen Jahren strukturelle Probleme aufgebaut wurden, die jetzt dringend angegangen werden müssen.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Der Titel „Kranker Mann Europas“ wird gerne immer wieder herumgereicht. Einst war die Rede vom Kranken Mann am Bosporus, womit der fragile Zustand des osmanischen Reichs in der Mitte des 19. Jahrhunderts gemeint war. Als Großbritannien im 20. Jahrhundert seine Stellung als Kolonial- und Weltmacht verlor, erhielten die Briten diesen Titel. Eine gewisse Berühmtheit erhielt diese Bezeichnung Ende der 1990er Jahre, als die britische Zeitschrift „The Economist“ den großen Nachbarn Deutschland als den „Sick man of Europe“ titulierte. Nachdem dieser Wanderpokal im zunächst bei Portugal und im letzten Jahr laut Economist erneut bei Großbritannien gelandet ist, schmückte die Frage „Is Germany again the sick man of Europe“ im Sommer erneut den Titel dieser Zeitschrift. Kurz: Eine gewisse inflationäre Verwendung dieses Begriffes ist zu beobachten.

Stärken nicht übersehen

Angesichts der Stärken, die Deutschland weiterhin hat – unter anderem eine hochgradig diversifizierte Volkswirtschaft mit über 1000 sogenannten „hidden champions“, einem dualen Berufsausbildungssystem, um das uns die meisten anderen Länder beneiden, und ein hohes Maß an sozialem Frieden – erscheint die Bezeichnung als etwas übertrieben.

Dennoch ist klar: Deutschland hat gravierende Probleme – Demografie und Arbeitskräfteknappheit, Bildungsqualität, Digitalisierung, Infrastruktur und Bürokratie sind nur ein paar Stichworte und wenn ein Abrutschen in eine Abwärtsspirale verhindert werden soll, muss dringend gehandelt werden.

Schlusslicht bei Wachstum

Deutschland wird in diesem Jahr voraussichtlich eine geringere Wirtschaftsleistung erbringen als im Vorjahr und sticht damit unter den übrigen G7-Staaten hervor, die allesamt Wachstum aufweisen sollten. Das ist für sich gesehen kein Beinbruch, zumal diese Entwicklung nicht wie früher von Massenarbeitslosigkeit begleitet wird und die anderen Länder nun keineswegs boomen. Deutschland hinkt jedoch auch bei einem Vergleich über die letzten fünf Jahre hinterher.

Industrielle Stärke schlägt zurück

Die Ursachen für diese unterdurchschnittliche Performance sind ein Mix aus kurzfristigen Entwicklungen und strukturellen Faktoren. Deutschland hat bekanntermaßen einen besonders großen Industriesektor, der in der Regel als eine der Stärken des Landes angesehen wird. Die globale Schwäche dieses Sektors und insbesondere das enttäuschende Wachstum des Verarbeitenden Gewerbes in China bedeutet aber, dass die exportabhängige Industrie besonders leidet. Mittlerweile ist China als Destination für deutsche Ausfuhren auf Platz vier abgerutscht. Vor zwei Jahren stand das Land noch an der zweiten Stelle. Gesamtwirtschaftlich macht sich das stärker bemerkbar als in anderen Ländern, wo die Bedeutung dieses Sektors geringer ist. In die gleiche Kerbe schlägt der rapide Zinsanstieg, denn dieser macht sich in der kapitalintensiven Industrie stärker negativ bemerkbar als im Dienstleistungssektor, der weniger stark auf Fremdkapital angewiesen ist. Da es besonders Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes sind, die energieintensiv arbeiten – dazu gehört die Chemiebranche, die Stahlindustrie sowie die Sektoren Papier, Glas, Keramik – wird Deutschland auch in dieser Beziehung härter getroffen als seine Peers in Europa. An dieser Stelle kann man dann auch gleich mit einem Vorurteil aufräumen: Die Stromkosten für deutsche Unternehmen besetzen keineswegs einen Spitzenplatz in Europa, sondern liegen im Mittelfeld, zwischen dem günstigeren Standort Frankreich und dem teureren Italien.

Chinas Wachstum wird Deutschland nicht beleben können und die Höhe der Zinsen wird von der politisch unabhängigen Europäischen Zentralbank bzw. die Kapitalmärkten determiniert. Ändern kann die Politik kurzfristig nur die Strompreise, etwa mit Hilfe eines Industriestrompreises (siehe dazu mein Kommentar vom 24.08. an dieser Stelle).

Arbeitskräftelücke von 4 Millionen Menschen

Für den Standort Deutschland langfristig entscheidender wird es aber sein, die strukturellen Probleme gezielt anzugehen. Bis zum Jahr 2030 werden 12 Millionen Arbeitnehmer:innen in den Ruhestand gegangen sein, während nur acht Millionen sogenannten Millenials neu in den Arbeitsmarkt kommen. Das ist eine Lücke von vier Millionen Personen, die getrost durch den Faktor „Erfahrung“ und die neue Einstellung zum Thema „Work Life Balance“ noch größer eingeschätzt werden darf.

Es gibt verschiedene Hebel, mit denen man die demografisch ungünstige Lage angehen kann. Gezielte Zuwanderung, Fortbildung, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, ein größerer Anteil der Frauen am Berufsleben und kindliche Früherziehung gehören dazu. Den Anteil der Frauen am Berufsleben zu erhöhen wird nur möglich sein, wenn die Kinderbetreuungsmöglichkeiten drastisch verbessert werden. Abgesehen davon wird die frühkindliche Erziehung unter anderem vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung als eine der Investitionen angesehen, die die höchste Rendite mit sich bringt. Das erscheint plausibel, weil in vielen Fällen ansonsten mit dem Gegenteil, nämlich einer Vernachlässigung der Kinder in diesem kritischen Alter, gerechnet werden muss. Das wiederum wirkt sich erheblich auf das Wohlergehen und die langfristige Fähigkeit und Bereitschaft, später einer Arbeit nachzugehen, aus. Auch im Schulsystem muss angesetzt werden. Eine jüngst erschienene Studie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat festgestellt, dass sich in den vergangenen zehn Jahren die Qualität der Schulen deutlich verschlechtert hat. Das wird bestätigt durch eine Umfrage des Ifo-Instituts, die unter anderem ergibt, dass der Lehrermangel das größte Problem darstellt.

Bezüglich der Zuwanderung wird geschätzt, dass laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung pro Jahr rund 400.000 Menschen im arbeitsfähigen Alter zuwandern müssten, um einen substantiellen Beitrag zur Schließung der demografischen Lücke zu leisten. Letztere zeigt sich aktuell auch dadurch, dass in Deutschland fast 800.000 offene Stellen gemeldet sind.

Zuwanderung stärken

Um diese erhebliche Zuwanderung zu bewerkstelligen, hat die Bundesregierung im Juni diesen Jahres ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen. Es sieht unter anderem vor, dass für bestimmte Personengruppen – dazu gehören beispielsweise Fachkräfte und Hochschulabsolventen sowie Menschen mit über zweijähriger Berufserfahrung – die Zuwanderung erleichtert werden soll. Das ist ein wichtiger Schritt. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass er alleine reichen wird. Vermutlich müssen die Personenkreise noch erweitert und der bürokratische Aufwand weiter reduziert werden, damit die Zuwanderung den Arbeitskräftemangel spürbar verringert. Ein grundsätzliches Problem ist in diesem Zusammenhang die politische Brisanz des Themas Zuwanderung, die gerne für politische Attacken genutzt wird.

Längere Arbeitszeit belohnen

Bei der Verlängerung der Lebensarbeitszeit gibt es einige vielversprechende Ansätze. Dazu gehört die Idee, dass Menschen, die das Rentenalter erreicht haben, ohne jegliche Besteuerung weiterarbeiten können. Dies würde ein interessanter Anreiz sein, dem Arbeitsmarkt länger zur Verfügung zu stehen. Eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters würde hingegen bedeuten, dass diejenigen mit Abschlägen bestrafen würden, die weiterhin mit 67 statt mit 70 (hier als Beispiel) in Rente gehen möchten. Die Förderung von Fortbildungsmaßnahmen, die den Strukturwandel in der Wirtschaft befördern, gehört ebenfalls auf die Liste der Schritte zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels.

370 Mrd. Euro müssen investiert werden

Ganz offensichtlich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Investitionsstau aufgebaut. Allein im Bereich Verkehrswege (Schienen, Straßen und Brücken) wird der Investitionsbedarf auf 370 Mrd. Euro. Nun kann man getrost davon ausgehen, dass diese Zahl, die aus einer Studie stammt, die vom Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen und des ADAC in Auftrag gegeben wurde, ein gewisses Lobbyelement enthält und sicher nicht klein gerechnet wurde. Aber selbst wenn man nur die Hälfte dieses Betrages annimmt, ist sie doch eine Indikation für den Handlungsbedarf, der sich in den vergangenen Jahren aufgestaut hat. Dazu kommen noch Milliardeninvestitionen im Bereich der Digitalisierung sowie im Bereich der Stromversorgung.

Geld ist eine politische Ressource

In diesem Zusammenhang wird immer lamentiert, dafür gäbe es kein Geld. Es wird auf die Schuldenbremse verwiesen, aber auch auf die schwierigen Zuständigkeitsverhältnisse zwischen Bund und Ländern. Dass die Schuldenbremse keine schicksalhafte Limitierung der Handlungsmöglichkeiten darstellt, wissen mittlerweile alle Bürger, seitdem mehrer hundert Milliarden Euro Hilfspakete während der Corona- und der Energiekrise geschnürt wurden. Die öffentliche Verschuldung gehört mit 67 % des BIP dennoch weiterhin zu den niedrigsten in der Eurozone. Man kann sogenannte Sondervermögen gründen (wie etwa für die Bundeswehr geschehen) oder aber auf Investitionsgesellschaften zurückgreifen, die als staatseigene Unternehmen über eine eigene Verschuldungskapazität verfügen, die nicht auf die öffentliche Verschuldungskennzahl angerechnet wird. Man mag die damit einhergehende Intransparenz beklagen. In dieser Zeit ist jedoch ein gewisser Pragmatismus gefragt und nicht das eiserne und zeitraubende – Zeit ist eine Ressource, die wir gerade nicht haben – Festhalten an ordnungspolitischen Grundsätzen.

Die Schulden, die jeder spürt

Man sollte allmählich verstanden haben, dass es zwei Arten von Schulden gibt: Die, die auf dem Papier stehen und die, die nicht auf dem Papier stehen. Letztere sind die, die alle Bürger spüren, wenn mal wieder ein Zug ausfällt, sie jeden morgen im Verkehrsstau stehen oder sich über den Fahrradweg ärgern, der nach 500 Metern mir nichts, dir nichts abbricht. Auch der massenhafte Ausfall von Schulunterrricht und die Tatsache, dass pro Jahr 50.000 junge Menschen ihren Schulabschluss nicht schaffen, gehören in diese Kategorie. Es sind dies die unterlassenen Investitionen der Vergangenheit, die gute Zahlen auf dem Papier produziert haben, aber jetzt für Unzufriedenheit, Staatsverdrossenheit und eine niedrigeren Produktivität sorgen.

Geld alleine wird es nicht richten

Richtig ist aber auch, dass Geld alleine den Investitionsstau nicht beseitigen wird. Immer wieder ist zu lesen, dass eingeplante Gelder nicht abgerufen werden. Während 28 Milliarden Euro (!), die Deutschland im Rahmen des EU Corona Aufbaufonds zustehen, vor allem aus politischen Gründen (bestimmte Reformbedingungen wurden noch nicht erfüllt) ungenutzt bleiben, sind es häufig rein bürokratische Gründe, die zu jahrelangen Verzögerungen bei Investitionen führen und eben nicht nur das fehlende Geld.

Ruf nach einer Staatsreform

Die schwierigen Zuständigkeitsverteilungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen sind neben dem Fachkräftemangel die Hauptursache für die fehlenden Investitionen. Hier müsste mit einer umfassenden Staatsreform angesetzt werden. 16 verschiedene Bauverordnungen und 16 unterschiedliche Schulpolitiken sind nur zwei Beispiele für die Ineffizienzen, die bei aller Liebe zu föderalen Strukturen (und die in der Tat gegenüber einem Zentralismus viele Vorteile mit sich bringen) auf den Prüfstand gehören. Hier und in Fortschritten bei der Digitalisierung dürften die wichtigsten Hebel liegen, um die Bürger und die Unternehmen von unnötiger Bürokratie zu entlasten.

Lösbare Aufgaben

Die Aufgaben sind groß, aber lösbar. Vielfach steht sich die Politik aber selber im Weg, sei es wegen ideologischer Scheuklappen, oder sei es aus Furcht, bei den nächsten Landtags- und Bundestagswahlen Stimmen zu verlieren. Noch sind wir nicht der Kranke Mann Europas. Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um ein Abrutschen in eine derartige Situation zu verhindern.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt

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