Der Wochenkommentar

„Krisenland“ Deutschland: Italien als Vorbild?

März 2024

Deutschland und Italien stehen wirtschaftlich in starkem Kontrast zueinander: Während Deutschland mit Stagnation und düsteren Prognosen kämpft, erlebt Italien überraschendes Wachstum. Doch hinter Italiens scheinbarer Stabilität verbirgt sich eine fragwürdige Abhängigkeit von fiskalischen Impulsen.

Ein Kommentar von Dr. Tariq Chaudhry

Dr. Cyrus de la Rubia

Angesichts der aktuellen Wachstumszahlen und Wirtschaftsprognosen wird in Deutschland häufig die Diagnose vom „kranken Mann Europas“ verbreitet. Die allgemeine Stimmung sei von Lamentieren und Jammern geprägt, so wie es sich laut volkstümlicher Auffassung für einen „kranken Mann“ gehöre. Die jüngsten Daten zeigen, dass das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands im vierten Quartal 2023 um 0,3 % geschrumpft ist, nach zwei Quartalen der Stagnation. Das Gesamtjahr 2023 endet daher mit einem Rückgang um 0,3 %. Die Aussichten für 2024 sind nicht viel besser: Die führenden Wirtschaftsinstitute haben ihre BIP-Prognose von 1,3 % auf 0,1 % nach unten korrigiert. Die wirtschaftliche Lage wird durch immer noch hohe Preise und Kreditkosten sowie eine schwache Auslandsnachfrage beeinträchtigt, insbesondere im verarbeitenden Gewerbe und im Baugewerbe.

Nach Covid läuft es besser

Fast neidisch geht da der Blick von Deutschland aus ins EU-Ausland. Und die Augen täuschen sich nicht: Italien, einst das ökonomische Sorgenkind der Eurozone, wächst schneller als der einst gewaltige Industriemotor des Blocks. Die italienischen BIP-Wachstumszahlen sind zwar nicht spektakulär, aber deutlich stabiler als derzeit in Deutschland. Auf Basis der Daten des italienischen Statistikamtes ISTAT verzeichnete die Volkswirtschaft im Schlussletzten Quartal 2023 ein Wachstum von 0,2 Prozent. Dieser Wert im Vergleich zu der leichten Schrumpfung in Deutschland im selben Zeitraum wirkt womöglich wenig beeindruckend, aber das ändert sich, wenn der Blick geweitet wird: Über einen längeren Zeitraum betrachtet zeigt sich, dass die italienische Wirtschaft im vierten Quartal 2023 4 Prozent gegenüber dem Niveau vor der Pandemie im vierten Quartal 2019 gewachsen ist. Die deutsche Wirtschaft hingegen stagnierte im selben Zeitraum. 2023 verzeichnete Italiens BIP einen Zuwachs um 0,9 %, und die Prognose der italienischen Zentralbank für 2024 sieht – gerade im Vergleich zur deutschen Stagnationserwartung – ebenfalls vielversprechend aus: 0,6 %.

Geheimwaffe Fiskalpolitik

Unweigerlich drängt sich die Frage auf, was das Geheimnis hinter dem relativ stabilen wirtschaftlichen Umfeld Italiens in der Post-Covid-Ära ist. Es ist nicht so, dass das Land grundlegende strukturelle Reformen eingeleitet hätte, oder sich neuerdings italienische Waren und Dienstleistungen einer besonderen Beliebtheit erfreuen würden. Es sind vielmehr erhebliche fiskalische Impulse, die die italienische Wirtschaft (zumindest kurzfristig) ökonomisch stabiler wirken lassen, als sie es tatsächlich sein dürfte. Ein Grund verbirgt sich hinter dem marktschreierisch wirkenden Namen „Superbonus 110“. Unter dem damaligen Premierminister Giuseppe Conte nutzte Italien die durch die Pandemie geschaffene wirtschaftliche Notlage, um die Wirtschaft anzukurbeln, hauptsächlich durch ein Steuergutschriftssystem, das im Juli 2020 begann. Ursprünglich ermöglichte dieser Vorteil den Hausbesitzern, 110 % ihrer Renovierungskosten von der Steuer abzusetzen, solange die Renovierung darauf abzielte, Gebäude umweltfreundlicher und nachhaltiger zu machen. Das enorme Ausmaß dieser Maßnahme ist nicht schwer zu erfassen: Die Wirtschaft reagierte prompt auf die rege Nachfrage. Italiens gesamtwirtschaftliche Investitionen, die Wohnraum einschließen, stiegen laut ISTAT im vierten Quartal 2023 im Vergleich zum vierten Quartal 2019 um satte 30 Prozent, während Deutschland in diesem Zeitraum nach DeStatis-Daten eine Investitionskontraktion um knapp 5 Prozent verzeichnete.

Der Erfolg dieses Programms kam und kommt dem italienischen Staatshaushalt jedoch teuer zu stehen. Die explodierenden Kosten des Programms führten dazu, dass die Subvention kurze Zeit später auf 90 % zurückgefahren und in den nächsten Jahren schrittweise reduziert wurde (auf 70 % im Jahr 2024 und 65 % im Jahr 2025). Kürzlich hat die Regierung unter Premierministerin Giorgia Meloni ihre eigenen Schätzungen des Haushaltsdefizits für 2023 von 4,5 % des BIP auf 7,2 % angehoben – eine besorgniserregende Zahl für ein Land mit Schulden in Höhe von etwa 140 Prozent des BIP, das jedes Jahr über 80 Milliarden Euro an Zinszahlungen leisten muss, auch wenn die Gesamtverschuldungsrelation zum BIP in den letzten Jahren aufgrund des hohen Nominalwachstums infolge der hohen Inflation zurückgegangen ist. In der mittleren Frist dürfte sich bei länger anhaltend hohen (Kapitalmarkt-)Zinsen und wieder niedrigen Inflationsraten die Schuldensituation für Italien zu einem unkalkulierbaren Risiko entwickeln. Überrascht von der Wucht dieses Programms hat Italiens Finanzminister Giorgetti nun auch die Übergangs- und Ausnahmeregelungen für den Superbonus mittels einer Eilverordnung gestoppt.

Geplagt vom Reformstau

Das Ende des steuermittelverzehrenden Superbonus-Programms dürfte Italien in ein Wachstum auf Kosten der Substanz zurückfallen lassen, wobei diese bereits jetzt äußerst brüchig ist. Als Land der verpassten Reformen und Chancen gilt Italien in der EU wie kaum ein anderes: Über einen längeren Zeitraum betrachtet wird deutlich, dass Italien sich keineswegs wirtschaftlich dynamisch entwickelt hat, sondern eher stagniert. Laut ISTAT ist die italienische Wirtschaft seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 praktisch stagniert, während die deutsche Wirtschaft (laut DeStatis) in diesem Zeitraum real um 17 % gewachsen ist. Die Probleme der italienischen Wirtschaft sind struktureller Natur und in den Statistiken offensichtlich: Italien hat noch einen langen Weg vor sich, bevor es diese Probleme bewältigen kann. Der demografische Wandel betrifft die gesamte Eurozone, aber in kaum einem Land schlägt dieser so massiv zu wie in Italien. Die Fertilitätsrate (laut Weltbankdaten) liegt bei nur 1,2 Geburten pro Frau, während sie in Deutschland bei 1,6 liegt. Seit 2012 sterben in Italien mehr Menschen als geboren werden, und im Jahr 2023 war die Differenz (knapp 1 Mio.) so groß wie nie zuvor. Ein weiteres Problem ist die niedrige Beschäftigungsrate von Frauen im erwerbsfähigen Alter, die laut der International Labour Association (ILO) bei lediglich 55 % liegt, dem niedrigsten Niveau in der Eurozone, während Deutschland mit 75 % einen deutlich höheren Wert aufweist. Zusätzlich sind fast 20 % der 15- bis 34-Jährigen laut Eurostat weder beschäftigt noch in Ausbildung oder Studium, was die höchste Rate in der EU darstellt. Dies steht im erheblichen Kontrast zu Deutschland – hier beträgt dieser Anteil nur knapp 9 %. Des Weiteren hat Italien mit einem langsamen Ziviljustizsystem, hoher Staatsverschuldung, großer Schattenwirtschaft und starken Wohlstandsunterschieden zwischen dem Norden und Süden des Landes zu kämpfen.

Fazit

Italien steht in den kommenden Jahren vor einigen Herausforderungen. Der „Superbonus" ist dieses Jahr abrupt abgelaufen. Die aktuelle italienische Regierung setzt ihre Hoffnungen auf den nationalen Aufbau- und Resilienzplan (NRRP), für den Italien etwa 194 Mrd. Euro aus EU-Mitteln des Next Generation EU-Programms (NGEU) zugesprochen bekommen hat, von denen bereits rund 50 % ausgezahlt wurden sind. Wenn Italien die verbleibenden Gelder bis 2026 sinnvoll investieren kann, könnten Wachstumsimpulse entstehen. Dennoch bleibt die italienische Volkswirtschaft im Wesentlichen von fiskalischen Impulsen abhängig. Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint die italienische Wirtschaft keineswegs als der "gesunde Mann Europas". Krank ist oder nicht ist weniger entscheidend, sondern vielmehr, welcher Anteil der Krankheit vorübergehend, permanent, heilbar oder unheilbar ist. Deutschland sieht sich derzeit mit all den genannten Kategorien von Herausforderungen konfrontiert. Ein aktueller Bericht des IWF stellt dabei die These infrage, dass das deutsche Wirtschaftsmodell irreparabel sei. Die weit verbreitete Sorge über eine De-Industrialisierung wird vom IWF als übertrieben angesehen. Die Industrieunternehmen hätten sich den widrigen Umständen angepasst und seien auf Produkte mit höherer Wertschöpfung umgestiegen. Der Bericht empfiehlt, dass Deutschland seine Aufmerksamkeit auf strukturelle Probleme lenken sollte. Demografische Herausforderungen könnten durch gezielte Zuwanderung von Fachkräften und eine Steigerung der Frauenerwerbsquote bewältigt werden. Um die Alterung der Infrastruktur anzugehen, wird vorgeschlagen, entweder die Schuldenbremse zu lockern oder zusätzliche Einnahmen zu generieren. Zur Steigerung der Produktivität werden der Abbau von Bürokratie und die Beschleunigung der Digitalisierung empfohlen. Italien, das sich in vermeintlicher Stärke zeigt, und Deutschland, das in seiner Schwäche kämpft, sollten den globalen wirtschaftlichen Wandel als Chance begreifen, den Anteil der permanenten, aber reparablen Krankheiten anzupacken. In einem Jahrzehnt wird sich niemand mehr daran erinnern, wer damals der kranke Mann Europas war. Wenn aber strukturelle Reformen in beiden Ländern ausgelassen werden, dann werden künftige Generation mit Bedauern auf die verpassten Chancen in Italien und in Deutschland zurückschauen.

Dr. Tariq Chaudhry

Dr. Tariq Chaudhry

Economist

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