Der Wochenkommentar

Richtungslose Weltwirtschaft

Juni 2023 Zyklische und strukturelle, sich teilweise gegenseitig widersprechende Faktoren bestimmen derzeit die Weltwirtschaft. Wo das alles enden wird, vermag niemand zu sagen. Aber ein paar Ideen, wie man sich verhalten sollte, haben wir schon.
Ein Kommentar von Dr. Cyrus de la Rubia

Dr. Cyrus de la Rubia

Segler kennen das: Es gibt diese Tage, an denen der Wind von verschiedenen Richtungen kommt, oder auch mal ganz wegbleibt. Nicht auszuschließen, dass an einem dieser Tage ein Gewitter aufzieht und die Böen dem Boot noch gefährlich werden. Vielleicht aber bleibt der Wind auch gleich für mehrere Tage oder Wochen weg. In einer ähnlichen Lage befindet sich heute die Weltwirtschaft, die sich auch eher richtungslos bewegt, während viele Risiken benannt sind, aber niemand weiß, ob sie schlagend werden. Dazu kommen noch strukturelle Themen wie etwa Demografie, Klimawandel und geopolitische Spannungen, deren Auswirkungen sich nur schwer von den kurzfristigen Entwicklungen abgrenzen lassen.

Berg- und Talfahrt bei Dienstleistungen und Industrie

Es beginnt schon mal mit der scheinbar unplausiblen Beobachtung, dass sich die Industrie auf der einen Seite und der Dienstleistungssektor auf der anderen Seite in unterschiedliche Richtungen bewegen. Der Industrieoutput schwächelt, die Dienstleistungsaktivität brummt ganz ordentlich. Das gilt für alle drei Wirtschaftszentren der Welt, die Eurozone, China und in einem etwas eingeschränkten Ausmaß auch für die USA. Ursächlich für diese ungewöhnliche Konjunkturlage sind – zumindest zum Teil – die Nachwirkungen von Corona.

Denn um gegen die pandemiebedingten Lieferkettenprobleme gewappnet zu sein, haben sich viele Unternehmen mit Vorleistungen und anderen Gütern eingedeckt, um nicht erneut in die Lieferfalle zu tappen. Am deutschen Fahrradmarkt sieht man dieses Phänomen derzeit recht anschaulich. Die Lager sind auf einmal voll, da zum einen jetzt die vielen Räder ankommen, die man teilweise schon vor anderthalb Jahren geordert hat, und zum anderen ist die coronagetriebene Nachfrage nach den Drahteseln zurückgegangen. Also senken die Hersteller und Verkäufer die Preise, um die Lagerbestände wieder auf Normalniveau zu bringen und es wird weniger produziert und geordert.

Endlich wieder das Leben genießen!

Im Dienstleistungsbereich ist die aufgestaute Nachfrage nach Freizeitaktivitäten – Restaurantbesuche, Hotelübernachtungen, Konzerte – hingegen immer noch zu spüren, viele Menschen sind in ihrem Ausgabeverhalten großzügiger geworden, was sich unter anderem in einer hartnäckigen Inflation in diesem Sektor bemerkbar macht.

Die konkreten Konjunkturindikatoren geben den Notenbankern überdies immer wieder Rätsel auf. Deutlich wurde dies zuletzt an den Arbeitsmarktdaten in den USA. Die bei Unternehmen erhobenen Daten weisen für Mai einen überraschend kräftigen Beschäftigungszuwachs von 339.000 Personen aus, die gleichzeitig bei privaten Haushalten durchgeführte Umfrage zeigt jedoch einen Beschäftigungsrückgang von 310.000 Personen. Ein Blick auf die langfristigen Datenreihen offenbart, dass die Umfragewerte bei Haushalten wesentlich volatiler ist und das Ausmaß der Abweichung nicht unbedingt normal, aber auch nicht vollkommen ungewöhnlich ist. Kurz: Die Payroll-Daten liefern in der Regel eine zuverlässigere Information über die Beschäftigungssituation, die daher weiterhin als robust zu bezeichnen ist. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Denn die ISM-Einkaufsmanagerindizes, die grundsätzlich als guter Frühindikator für den Zustand der US-Konjunktur gelten, tendieren seit vielen Monaten nach unten und sind kurz davor in den schrumpfenden Bereich vorzurücken.

Higher for longer

Jenseits der beobachtbaren Daten gibt es natürlich noch einige Zukunftshypothesen, die prominenteste unter ihnen ist, dass die bisherigen Zinserhöhungen mit einer Verzögerung von bis zu anderthalb Jahren eine Rezession auslösen werden. Letztere wird im Übrigen von der inversen Zinsstruktur in den USA – gemessen als Renditeunterschied zwischen den zehn- und den zweijährigen T-Notes – schon seit Mitte 2022 angekündigt. Wir rechnen nicht mit einer ausgeprägten Rezession und gehen daher auch nicht von deutlich sinkenden Preisen aus. Unseres Erachtens wird die Fed nach ihrer gestrigen Zinspause im Juli den Zins ein weiteres Mal anheben, um dann erst im nächsten Jahr die Leitzinsen zu senken. Sie dürfte aber nach einigen Lockerungsschritten feststellen, dass die Inflation hartnäckig hoch bleibt und dann eine längere Zinspause einlegen.

Unsicherheit über Zinspfad belastet Konjunktur

Interessanterweise ist die EZB nicht in einer komplett anderen Lage. In der Eurozone ist ebenfalls dieser scheinbare Widerspruch zwischen der sehr guten Arbeitsmarktlage auf der einen Seite und der dahindümpelnden Gesamtwirtschaft zu beobachten. Und auch hier brummt der Dienstleistungssektor – der gut laufende Tourismus spielt dabei eine wichtige Rolle – während das Verarbeitende Gewerbe einen kräftigen Rückgang bei den Aufträgen verzeichnet. Niemand weiß daher mit Sicherheit, wie schnell sich die Inflation zurückbilden wird. Das wiederum bedeutet, dass sich die Unternehmen weiterhin unsicher sind, wann die kurzfristigen Zinsen ihren Höhepunkt erreicht haben werden. Üblicherweise gehen die Marktteilnehmer davon aus, dass auch die langfristigen Renditen nicht weiter steigen werden, wenn die EZB erstmal die sogenannte Terminal Rate erreicht hat. Es ist also nicht nur das höhere Zinsniveau, sondern auch die Unsicherheit darüber, ob die Zinsen eventuell noch höher steigen und Kalkulationen erneut durcheinanderwirbeln, die die Wirtschaft und besonders stark den Bausektor belasten. Wir gehen davon aus, dass die Notenbanken höchstens noch zwei Schritte machen werden, während die langfristigen Zinsen bis in das Jahr 2024 noch steigen sollten.

KI beseitigt nicht die demografischen Probleme

Über allem stehen aber auch strukturelle Herausforderungen, die grundsätzlich globaler Natur sind. Dazu zählen neben den geopolitischen Unsicherheiten die neuen Anforderungen im Rahmen von Klimaschutzmaßnahmen (höhere CO2-Preise, Vorgaben, Verbote) sowie demografische Veränderungen, die sich in der Form von Arbeitskräftemangel schon seit geraumer Zeit zeigen. In diesem Zusammenhang ist auch festzustellen, dass die Ansprüche der neuen Generationen an die Arbeitswelt sich wandeln. Work-Life-Balance steht offensichtlich viel stärker im Fokus als das früher der Fall war. Gleichzeitig kündigt sich mit neuen KI-Anwendungen ein revolutionsähnlicher Wandel an, dessen Auswirkungen auf die Arbeitswelt kaum jemand so recht greifen kann. Wir sind der Meinung, dass der Arbeitskräftemangel noch viele Jahre zu den größten Herausforderungen für die Unternehmen in den USA und der Eurozone zählen und die Produktivität bzw. das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen werden. Der technologische Wandel durch KI-Anwendungen wie ChatGPT kann zwar rasant sein, aber der Beitrag dieser neuen Technologie zur Automatisierung von Mangelberufen – Pfleger-, Lehrer- und Handwerker:innen – dürfte kurz- bis mittelfristig bescheiden bleiben.

Der Arbeitskräftemangel und die klimabedingten Mehrkosten sind auch eine Herausforderung für die Notenbanken, die sich einem strukturellen Preisdruck gegenüber sehen dürften. Eine Rückkehr zu niedrigeren Leitzinsen wird daher bis auf Weiteres wahrscheinlich nicht passieren.

Und dann sind da noch die Probleme Chinas. Abgesehen von dem Szenario, dass der Westen anstreben könnte, sich von der Region zu entkoppeln, falls es zu einer militärischen Auseinandersetzung mit Taiwan kommen sollte, ist China vermutlich bereits in der sogenannten Falle des mittleren Einkommens. Das bedeutet, dass China unseres Erachtens in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts nur noch mit Raten von 0 bis 3 % wachsen wird, hauptsächlich, weil die Bevölkerung schrumpft und überaltert und das Bildungsniveau viel zu niedrig ist, um den Aufstieg hin zu einem Hochtechnologieland nach dem Vorbild Südkoreas oder Taiwans zu werden. Für Europa, dessen Wirtschaft in einigen Sektoren enge Handelsbeziehungen zu China hat, wird dies zu einem Umdenken führen müssen, da China seine Rolle als Wachstumsmotor dauerhaft verlieren dürfte.

Wir befinden uns in einem schwierigen Gewässer, es gibt Strömungen, Unterströmungen und wechselnde Winde. Als Segler wird man häufiger mal kreuzen müssen. Die Zeit des Winds von Achtern ist endgültig vorbei, aber mit Geduld und Beharrlichkeit wird man vorwärts kommen. Wichtig wird dabei sein, das Boot sturmfest zu machen, denn für Überraschungen ist das Meer immer gut. Aber wohin es genau geht, vermag niemand zu sagen. Nicht umsonst gibt es den (von mir abgewandelten) Spruch: Segeln ist die langsamste, teuerste, aufwändigste und aufregendste Art an einen Ort zu kommen, an den man vorher gar nicht gedacht hat.

Dr. Cyrus de la Rubia

Chefvolkswirt und Head of Research

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